Philippe II., Mephistophele, Dossifei, Daland, Selim („Il Turco in Italia“), Dulcamara – das Repertoire, mit dem Tigran Martirossian das Publikum in Hamburg bisher begeisterte, ist breit gefächert und
anspruchsvoll. Der seit 2005 fest an der Hamburgischen Staatsoper engagierte Baß beeindruckt mit seiner ruhigen, bestimmten Professionalität.
Der armenische Sänger stammt aus einer sehr musikalischen Familie, bei deren Zusammenkünften stets auch gern und viel gesungen wurde. Von seiner Mutter, einer professionellen und leidenschaftlichen Pianistin,
wurden er und sein Bruder angehalten, dieses Instrument ebenfalls zu erlernen, doch bei Tigran Martirossian war das Interesse an technischen und physikalischen Dingen lange Zeit größer als seine musikalischen Vorlieben. Zeitweise studierte er sogar beides parallel.
Schließlich wurde er am renommierten Moskauer Gnessin-Institut zum Gesangsstudium angenommen, wodurch die Berufswahl endgültig zugunsten der Musik entschieden war. Von der Arbeit mit seinem Lehrer, dem Baß
Pavel Lisitsian, schwärmt er noch heute.
Zu seinem ersten Engagement an der Moskauer Neuen Oper kam er mit dreiundzwanzig Jahren. „Ohne Erlaubnis meines Professors bin ich zum Vorsingen gegangen. Zwei Wochen lang habe ich danach nicht dort
angerufen, und dann dachte ich, ich könnte mal anrufen, ich dachte ja nicht, daß sie mich genommen haben. Die Frau am Telefon schrie: ‚Wo bist du? Du hast in zwei Wochen Vorstellung!‘ Das war die erste
professionelle Vorstellung, Cecil in ‚Maria Stuarda‘.“ Nach drei Jahren an diesem Opernhaus und nach Abschluß am Gnessin-Institut wurde er an das Bolschoi-Theater engagiert, wo er unter anderem Pimen und Galitzky („Fürst Igor“) sang.
Durch die Teilnahme an mehreren Wettbewerben ergaben sich auch Engagements außerhalb Rußlands, so zum Beispiel in Lausanne als Salieri in Rimski-Korsakows „Mozart und Salieri“, als Warlaam in Frankfurt und
zahlreiche Auftritte in den USA, Großbritannien und Frankreich.
Das Engagement als Ensemblemitglied in Hamburg ergab sich eher zufällig. „Es war ein Vorsingen in Hamburg, aber nicht für ein Festengagement. Dann kam eine e-mail von meiner Agentur, daß die Staatsoper mir einen Festvertrag anbieten möchte. Ich habe mich sehr gefreut. Für mich war es wichtig, auch eine gute Repertoire-Vorbereitung zu haben und mich in Ruhe weiter zu entwickeln.“
Wie ist das mit den großen Rollen? Welche Wünsche sind da noch offen? „Boris Godunow würde ich gern singen, es ist eine sehr psychologische Rolle, ich habe sie gelernt, aber gemerkt, daß so eine Rolle einen kontrolliert. Man muß so stark sein, daß man musikalisch, sprachlich und als Charakter dagegen bestehen kann.“ Auch Zaccaria in „Nabucco“ steht auf seiner Wunschliste. „Das ist Verdi, das gefällt mir, das ist nicht so leicht, aber macht mir Spaß.“
„Ich habe meine Lieblingsrollen schon gesungen“, sagt Tigran Martirossian sehr bestimmt. Die eine ist Philipp II., wobei aus seiner Sicht sowohl die italienische, als auch die französische Fassung
Vorteile haben, die andere ist Mephistophele, die er in den nächsten Monaten wieder singen wird. Der Sänger würde gern mehr aus dem französischen Repertoire singen, beispielsweise Massenets Don Quichotte,
aber das werde leider so selten aufgeführt.
„Große Rollen brauchen Zeit, um gut vorbereitet zu werden.“ Bis eine Rolle richtig zu seiner Zufriedenheit sitze, vergingen durchaus einmal zwei Jahre. „Es wächst einfach ständig.“
Philipp nennt er als Beispiel. „Ich habe bis letztes Jahr gedacht, er ist ein armer schwacher Mann, und mit der Zeit habe ich gemerkt, daß das nicht hundertprozentig stimmt. Er ist König, er hat soviel Macht.
Besonders im Duett mit dem Großinquisitor, wo er zwar sagt, was kann ich gegen diese Macht tun, ist es trotzdem erstaunlich, was er wagt, dieser Macht zu sagen. Ich habe mir gedacht, daß es interessant wäre, wenn man die gesamten Emotionen verbreitern könnte, mehr Aggression, mehr Stärke, aber auch mehr Lyrik.“ Vom Gelingen dieser Intention konnte man sich in der aktuellen Spielzeit überzeugen.
Eine weitere Glanzrolle, der Dossifei in „Chowaschtschina“, fiel ihm sehr leicht. „Das liegt vielleicht daran, daß ich als Mensch ihm ähnlich bin mit der eher ruhigen Art. Auch gesanglich war es leicht. Ich habe von Anfang an gewußt, daß ich mich mit den Kantilenen wohlfühlen würde. Ich würde mich freuen, wenn diese Rolle wiederkäme.“
Das Rollenstudium fängt er mit Text und Musik gleichzeitig an, erst danach folgt die Ausarbeitung der Figur. „Stimmfarben sind für mich sehr wichtig. Wenn alles nur mit einer Farbe gesungen wird, ist das ein
bißchen langweilig. Die größten Sänger der Welt haben immer unterschiedliche Farben benutzt.“ Als Beispiel nennt er Tito Gobbi, der aus seiner Sicht stets für jeden Ton, jede Note genau die richtige Farbe gefunden hat. „Das ist Musik, dann macht es Spaß.“
Der Baß mag sowohl die ernsten als auch die komischen Rollen seines Repertoires. „Im Kino liebe ich Tragikomödien, die beide Seiten zeigen, aber das passiert in der Oper fast nie.“
Privat hört Tigran Martirossan eher Symphonien, Klavierkonzerte und Kammermusik sowie Liedgesang. „Ich möchte selbst mehr Liederabende singen. Das ist eine Art Musik, da geht mir das Herz auf.“ Er bereitet
derzeit zusammen mit einem Pianisten Liedprogramme für Aufnahmen vor, die er unbedingt gern machen würde. „Ich hätte gern je eine CD mit deutschen, vielleicht russischen und französischen Liedern. Das Programm wird gerade aufgebaut.“
Für die nähere Zukunft stehen Verdi-Partien, Wagner und auch Borodin auf dem Programm. Man darf gespannt sein, was das Verdi-/Wagner-Jahr hier noch bringt. Zuviel verraten wollte der Baß jedenfalls nicht.
Wir freuen uns auf das, was auch immer noch kommen mag – und sicherlich freut sich der eine oder andere im Hamburger Publikum mit.
MK & AHS (März 2013)