„Orpheus in der Unterwelt“ – 25./26. Mai 2024

Diese Produktion ist ein Höllenspaß, und der Opera na zamku ist es damit gelungen, eine der besten Inszenierungen auf die Bühne zu bringen, die wir in den letzten Jahren gesehen haben.

Es stimmt einfach alles – vom komödiantischen Timing über die liebevolle Modernisierung und den gekonnten Einsatz der Videotechnik bis hin zur perfekten musikalischen Umsetzung durch fast durchweg zwei Besetzungen pro Rolle.

Von Anfang bis Ende passen musikalisches wie inszenatorisches Konzept, und der Spaß übertrug sich an beiden besuchten Abenden rasend schnell von der Bühne auf den Zuschauerraum.

Regisseur Jerzy Jan POŁOŃSKI hat eine Welt geschaffen, in der sich die Gegenwart in den Vorgängen der Antike spiegelt. Eurydike, Orpheus und Pluto sind Teil einer Liebesshow wie man sie zuhauf im Fernsehen findet, während sich die Götterwelt in einer Kulisse à la Supertalent (polnisch: Mam talent!) tummelt, und Eurydike ihre Langeweile in der Hölleneinsamkeit via instagram story-artigen Video mitteilt. Man stellt fest, daß in Polen die Problematiken Trash-TV und übertriebene Selbstdarstellung in den (sozialen) Medien spiegelgleich zu denen in Deutschland sind.

Daß all dies durchweg unterhaltend ist und nie mit der eigentlichen Geschichte kollidiert, ist ein großer Verdienst des Regisseurs und seines Teams. Die Bezüge der Figuren zueinander stimmen ebenso wie die einzelnen Charaktere in beiden Settings glaubhaft sind.

Das Bühnenbild von Wojciech STEFANIAK erweist sich als unglaublich wandelbar. Zentraler Bestandteil ist die große Videoleinwand, die so harmonisch in den metallenen Hintergrund eingebunden war, daß sie in keiner Weise störend wirkte. Man arbeitet mit einer zweiten Ebene als Rundgang auf halber Höhe, Requisiten wie herauf- und herunterfahrbaren Elementen und verschiedenen bunten Sitzgelegenheiten sowie sehr stark mit Beleuchtungseffekten. Andrzej KIEĆ, Piotr NOWAK und Roger Bernad PARETAS unterstützten den reibungslosen Szenenwechsel auf der Bühne nicht ohne kleine Showeinlagen.

Auch die Kostüme von Anna CHADAJ fügen sich nahtlos in das Konzept. Sie besitzen alle einen modernen Touch, sind aber durch die Bank weg kleidsam. Venus‘ schicker Hosenanzug, Hebes elegantes Kleid oder Dianas bikeranzug-ähnliches Outfit wurden eigentlich nur durch die Idee, Pluto in seiner Verkleidung als Aristaios tatsächlich in einem überdimensionierten Imkeranzug auftreten zu lassen, und durch die glaubwürdige Verwandlung von John Styx in einen waschechten Anhänger des FC Beocja (Böotien) inkl. Fan-Schal getoppt.

Durchweg funktionierende und auf den Punkt eingesetzte Multimedia-Projektionen kann man nicht genug feiern. Viele haben es versucht, Karolina JACEWICZ gehört zu jenen, denen eine perfekte Umsetzung gelungen ist. Ob die professionell gefertigten Kamerabilder gedreht von Vasyl KROPYVNYI und Bartosz MADEJ oder die an Instagram-Videos erinnernden und von den Künstlern selbst gedrehten Einspieler im 2. Akt – alles war auf dem Punkt und funktionierte sehr harmonisch mit der effektvollen Lichtregie von Katarzyna ŁUSZCZYK.

Daß GMD Jerzy WOŁOSIUK und sein großartig disponiertes ORCHESTER ein Garant für präzises und stimmungsvolles Musizieren egal welchen Genres sind, sollte eigentlich kein Geheimtip mehr sein. Offenbach erfuhr hier die gleiche musikalische Wertschätzung wie beispielsweise Britten oder Verdi, und die orchestrale Begleitung klang ebenso perfekt.

Oper und Operette sind natürlich nichts ohne Sänger, und was man hierfür an der Opera na zamku aufbot, konnte sich in sämtlichen Rollen hören lassen.

Ewa OLSZEWSKA war die Eurydike des ersten Abends. Sie gab grandios die Zicke, ohne eine Sekunde unsympathisch zu wirken. Stimmlich wie im Spiel war sie glaubwürdig am Ruder, was Eurydikes Enttäuschung über die Einsamkeit der Hölle umso greifbarer machte. Die bisher von ihr gehörte musikalische Bandbreite ergänzte sich hier eine weitere spannende Facette.

Am Sonntag hatte man Yana HUDZOVSKA mit der Partie betraut. Sie nennt eine ausgesprochen schöne, in den Koloraturen äußerst geschmeidige Stimme ihr Eigen, wirkte als Figur weniger manipulativ – bis zu jenem Moment als Eurydike entscheidet, Jupiter zu benutzen, um der Hölle zu entfliehen. Ihre Bacchantin klang dann auch glaubhaft verrucht.

Małgorzata ZGORZELSKA gab in beiden Vorstellungen ein Paradebeispiel an Artikulation und Diktion. Ohne Kenntnis des polnischen Vorbilds ihrer Interpretation läßt sich ihre Öffentliche Meinung am ehesten mit der britischen Moderatorin Anne Robinson vergleichen. Man empfand automatisch Mitleid mit jenem Mann, dessen Schwiegermutter dieser so exzellent interpretierte Besen war.

Eurydikes Ehegespons erwies sich als Abziehbild eines typischen intellektuellen Pantoffelhelden. Dawid KWIECIŃSKI sang und spielte Orpheus an beiden Abenden. Er ist auf dem Weg zum dramatischen Tenor par excellence. Seine Stimme läßt nichts an Flexibilität, Strahlkraft und Schönheit vermissen, und seine offensichtliche Freude daran, die Rolle mit Ironie und Leben zu füllen, war die Kirsche auf der Sahne.

Eine ebenfalls sehr erfreuliche Neuentdeckung war Rafał ŻUREK als Pluto. Von Mephisto bis hin zu Loki konnte man vieles in seiner Interpretation des Höllengottes entdecken – alles stets mit einem individuellen Twist. Daß Eurydike diesem Gott verfiel, hätte auch die stärkste Ehe nicht verhindert. Żureks Stimme besitzt in allen Lagen einen ausgeprägten Charakter und eine erstaunliche Bandbreite. Sie klang in ihrer Natürlichkeit ausgesprochen schön, wirkte keine Sekunde fad oder aufgesetzt. Spiel und Gesang fanden hier ganz ungekünstelt zusammen, und der Spaß am Spaß war unglaublich ansteckend.

Am ersten Abend wurde die Tenorriege von Paweł WOLSKI komplettiert. Er ist exzellenter Beobachter und besitzt die Gabe, verschiedensten Rollen, egal ob groß oder klein, eine individuelle Charakterisierung zu geben. Und so gruselte es einen auch bei dem Gedanken, wie sich dieser Hooligan Styx wohl aufgeführt hatte, um physisch wie charakterlich derart entstellt (mehr Igor als Prinz von Arkadien) in der Hölle zu landen. Die interessanten neuen stimmlichen Facetten konnte der Tenor indes zum Glück dann doch nicht verbergen.

Am zweiten Abend hörte man Ruslan BILCHAK als John Styx, der über eine sehr gefällige Stimme verfügt, die er zwecks Effekts gut einzusetzen weiß. Konzepttechnisch ging er allerdings höchstens als FC Bayern-Fan durch.

Tomasz ŁUCZAK gab Jupiter am Samstag mit einer Menge Selbstironie und gut eingesetzter, nie übertriebener Komik. Stimmlich war er im „Fliegenduett“ mit Eurydike besonders grandios. Kamil PĘKALAs Version des Göttervaters hätte dagegen dem französischen Film entsprungen sein können. Laissez-faire war hier der zweite Vorname im Spiel, während die gesangliche Gestaltung definitiv Lust auf mehr machte. Dieser Bariton dürfte in einer Menge sehr anständiger Partien mehr als anständig brillieren. Sein Zusammenspiel mit Pluto war zwerchfellerschütternd.

In der Götterriege begeisterten Zuzanna CISZEWSKA (25.05) und Agnieszka NURZYŃSKA (26.05) als Diana. Erstere als temperamentvoll agile Göttertochter, deren Schmollen über die Verwandlung ihres Geliebten stets kurz vor der Explosion zu stehen scheint. Ihre Kollegin am zweiten Abend stand ihr an Temperament nichts nach, brachte aber das um den Fingerwickeln des Göttervaters mehr ins Spiel.

Als Cupido priesen Aleksandra BAŁACHOWSKA-JAGUSZ (25.05.) und Julita JABŁONOWSKA (26.05.) klang- und stimmungsvoll die Liebe. Merkur als nervöser sowie recht eilfertiger Götterbote wurde Łukasz RATAJCZAK mit viel Überspanntheit als Abziehbild eines modernen Medienmenschen karikiert.

Auch Ewa MENASZEK hinterließ einen überaus positiven Eindruck. Sie verdrehte als Venus neben allen anderen Männern vor allem dem Mars von Janusz LEWANDOWSKI gehörig den Kopf, während er rollendeckend polternd den Kriegsgott im Flecktarn gab.

Sandra Klara JANUSZEWSKA war als echte Type nicht nur visuell präsent. Sie ließ auch buchstäblich die Wände erbeben als Junos Zorn auf den untreuen Jupiter niederging. Ihre später gezeigte Sympathie für Pluto war klammernd überzeugend.

Als Minerva tummelten Lucyna BOGUSZEWSKA am ersten Abend und Tetiana BILCHAK am zweiten im Göttergewirr. Und sowohl Maria KRAHEL (25.05) als auch Aleksandra WOJTACHNIA (26.05) konnte man als geschäftige Hebe mit Rhythmus im Blut nicht übersehen.

Der CHOR der Opera na zamku (Leitung: Małgorzata BORNOWSKA) bewies, daß Qualität keine Frage von Größe des Klangkörpers ist. Man war mit Spaß dabei. Alle musikalischen Aufgaben wurden mit ohrenscheinlicher Freude an der stimmlichen Umsetzung und präzisem Gesang gelöst.

Wir sind es durchaus gewohnt, daß in Opernvorstellungen der Chor besser tanzt als das eingesetzte Ballett. In Szczecin verfügt man aktuell aber über eine exzellente BALLETTKOMPANIE, die die Choreografie von Karol ŻUREK so präzise wie professionell umsetzte und das Publikum ebenso begeisterte wie die Darbietung der Sängerkollegen. Beide Seiten fanden sich im Cancan zusammen. Auf die Idee, diesen als dance battle zwischen Hölle und Olymp einzustudieren, muß man auch erst einmal kommen.

Gesungen und gesprochen wurde in polnischer Sprache, was aber dank der zweisprachigen polnisch/deutschen Übertitel überhaupt kein Problem darstellte.

Der Spaß steht in dieser Produktion sicherlich im Vordergrund, der eine oder andere Twist regt durchaus zum Nachdenken an. Schlußendlich sollte man aber schon allein wegen der grandiosen musikalischen Umsetzung die Reise an die Oder erwägen. AHS