„Aus einem Totenhaus“ – 14. Mai 2015

Národní Divadlo (Nationaltheater)

Wenn ich noch einmal meine Gralmetapher bemühen darf: In diesem Fall hatten wir einen Gral, der zwar tatsächlich der echte sein könnte – dafür war er alt und verkratzt und hat sich irgendwann unerwartet in eine Kleinsche Flasche verwandelt…

Soll heißen: Musikalisch toll, aber während die Inszenierung (Daniel ŠPINAR) der ersten beiden Akte noch einigermaßen Sinn ergibt, habe ich die des dritten nicht wirklich begriffen.

Die Ouvertüre beginnt vor einer Leinwand mit einer Nahaufnahme des lächelnden Janáček. Unter den Augen des Platzmajors und des Wärters betreten die Sträflinge im Frack einzeln die Bühne, dirigieren kurzzeitig das Orchester und dann werden je drei Verbrecherphotos gemacht. Mit jedem Blitz verschwinden Buchstaben des über denjenigen projizierten Namens (Projektion: Erik BARTOŠ), bis nur noch die Gefängnisnummer bleibt.

Als Vorstellung der Hauptpersonen ist dies eine wirklich gute Idee – hätte man die Bühne besser ausgeleuchtet. So bleiben die meisten Gesichter im Dunkeln, und ich habe sie dann an ihren Gefangenennummern wiedererkannt… Oder war das Absicht?

Der erste Akt zeigt dann einen heruntergekommenen Saal (Bühnenbild: Lucia ŠKANDÍKOVÁ). Frühere Pracht wird angedeutet, doch jetzt bleibt nur ein kaputter Konzertflügel und ein Graffito mit Spruch „In jeder Kreatur ein Funke Gottes“ (den Janáček an den Anfang der Partitur schrieb) auf Russisch. Die Sträflinge treten als Putzkolonne auf, mit Eimer und Besen, in blauen Uniformen mit ihren Gefängnisnummern auf dem Rücken (Kostüm: Iva NĚMCOVÁ).

Eine Gruppe von sieben Sträflingen mit bemerkenswerten Frisuren fällt auf. Diese stellen später die stummen Rollen der Theaterstücke und im Rest der Oper eine Mischung aus Kommentar und Comic Relief. Da sie Skuratovs „Já, mladá, na hodechbyla“ mit Luftinstrumenten untermalten, habe ich sie in Gedanken „die Boyband“ genannt.

Auch zeigt sich bereits eine zumindest sehr durchdachte Personenregie. Ein Beispiel: Als der Platzmajor eintritt, stellen sich die Sträflinge in Reih und Glied an den Seiten der Bühne auf. Solange der Major sich Petrovič zuwendet stehen sie entspannt, dreht er sich jedoch um, stehen alle in seinem Blickfeld, aber nur da, stramm. Das Stück blieb voll solch kleiner Details.

Aljeja und Luka werden als Paar dargestellt. Die Sträflinge sehen durch die Tür Petrovičs Bestrafung zu, ob ihre Reaktion Mitleid oder sexuelle Erregung darstellen soll, bleibt auch unklar. Der gebrochene Flügel des Adlers wird mit dem erwähnten Konzertflügel gleichgesetzt (auch auf Tschechisch bedeutet das Wort beides). Unverständlicher ist da schon die Verwandlung von Faden und Schere in Lukas Arie zu Eimer und Besen… Petrovič zieht am Ende des Akts auch tatsächlich ein Messer, dass ihm Aljeja mühsam abnimmt.

Der zweite Akt beginnt mit der Boyband auf Eimern stehend, die den Gesang der Stimme hinter der Bühne gestisch untermalen. Als sich der Vorhang hebt, ist die Bühne bis auf Petrovič und den halbnackten Aljeja leer. Skuratov erzählt seine Geschichte mit einem Schuh als Mikrophon. Während das erste Theaterstück noch wiederzuerkennen ist, mit der Boyband sowohl als Gespielinnen Don Juans als auch als Teufel, wurde das Zweite eher zu „Sir Galahad der Reine auf Schloss Dosenschreck“ – für nicht Monty-Python-Kenner auch: „Die sieben Willigen und der keusche Brahmine“. Am Ende des Akts liegt Aljeja dann (scheinbar?) tot auf dem Flügel.

Der dritte Akt fällt dann aus der Reihe. Er spielt auf dem nun sauberen Bühnenbild mit einem intakten Flügel. Ein zweiter solcher hängt kopfüber an Drähten vom Schürboden, und die Sträflinge tragen nun wieder Abendgarderobe. Gegen Ende von Šapkins Erzählung betritt eine Tänzerin im blutroten Kleid die Bühne. Luka weicht vor ihr zurück, der Rest verläßt die Bühne. Als Einziger erzählt Šiškov ohne Publikum, am Flügel stehend wie ein vortragender Sänger, „begleitet“ von Petrovič und Aljeja am Flügel, seine Geschichte, untermalt vom Tanz der bald nur noch Unterhosen tragenden Akulka. Im Moment des Wiedererkennens seines alten Rivalen schneidet er diesmal Luka/Filka die Kehle durch.

Der Chor betritt die Bühne wieder, Noten in den Händen, gefolgt vom Wärter und dem Platzmajor in Clownsschminke. Während der Wärter Luftballons verteilt (die durch einen wirklich beeindruckenden Lichttrick Grinsegesichter reflektieren – Licht: Martin ŠPETLÍK), verkündigt der Major Petrovič seine Freilassung. Die Sträflinge werfen ihre Noten in die Luft, und der „Adler“ wird „freigelassen“, d.h. der hängende Flügel zur Decke hochgezogen. Der Chor verläßt die Bühne, und Petrovič bleibt am Flügel spielend zwischen den Leichen Aljejas (in derselben Position wie am Ende des zweiten Akts) und Lukas zurück.

Was ist dieser dritte Akt nun? Todeshalluzination Aljejas? Erinnerungen an die Zeit in der anscheinend alle Beteiligten Dirigenten waren? Schaffensprozeß Petrovičs (der am Ende, umringt von Papieren, auch einen Komponisten oder Schriftsteller darstellen könnte)? Traumwelt, welche die nicht freigelassenen und nicht toten Sträflinge wieder verlassen müssen? Ich beschwere mich ja gerne, wenn nur das Programmheft mir auf solche Fragen eine Antwort gibt. Aber dieses Mal findet sich nicht einmal da eine Hilfestellung…

Die meisten kleineren Rollen wurden einfach direkt an die Größeren drangehängt. Dennoch bleiben Jiřì HRUŠKA (die Wache), Štěpán ELIÁŠ (die „Dirne“) und Karel DRÁBEK (der Koch) deren Leistrung aufgrund ihrer wenigen Zeilen schwer zu beurteilen ist. Jana VRÁNA, die Tänzerin in der Rolle der Akulka, möchte ich aufgrund mangelnder Fachkenntnis nicht kommentieren. Nur eins: mußte man sie denn wirklich auf dem Flügel stehend diesen nicht im Takt mit Füßen treten lassen? Der Resonanzkörper tat nämlich genau das, was seine Aufgabe ist, und ich fand es wirklich störend.

Jevhen ŠOKALO als Platzmajor (plus die eine Zeile des Popen) war im ersten Akt leider etwas schwach, von Gorjančikov etwas zu mühelos übertrumpft, im dritten Akt dagegen klang er um ein Vielfaches besser, und ich habe das Gefühl, diese Zeile schon ein paar Mal geschrieben zu haben…

Die Leistung Josef MORAVECs als Skuratov schwankte leider ziemlich. War eine Zeile ausgezeichnet gesungen, konnte schon die nächste zu leise, schwach oder flach klingen. Skuratov kam auf die Bühne, als hätte er einen Ohrwurm, immer einen Finger im Ohr und den Kopf im Takt nickend. Seine Arie trat diesen Gedanken ziemlich breit, in dem er das Gebaren eines Rocksängers imitierte, und es half nicht, daß der betrunkene Unterbrecher, von einem wesentlich aktiveren Sänger gespielt, im eigenen Scheinwerferlicht, große Teile der Aufmerksamkeit auf sich zog. Moravec übernahm auch noch den großen Sträfling und die Stimme hinter der Bühne, mit ähnlichen Ergebnissen.

Pavel ŠVINGR als der kleine Sträfling und der Schmied spielte die Aggressivität seiner Rolle überzeugend, blieb aber musikalisch unauffällig. Auch Václav LEMBERK, in den kombinierten Rollen der Čerevin, des jungen und des lustigen Sträflings blieb mir nicht weiter im Gedächtnis.

Bei Jan MARKVART als der alte Sträfling fielen mir vor allem die hohen Töne positiv auf.Auch an Michal BRAGAGNOLOs Aljeja gibt es nichts auszusetzen – aber leider auch nicht wirklich etwas zu loben. Er spielte und sang die Rolle kompetent, ohne besonders aufzufallen.

Jiřì BRÜCKLER sang die kombinierten Rollen Čekunovs, Don Juans und des Brahminen und das recht gut, mit wohlklingenden Tiefen, überzeugendem Ausdruck und amüsantem Schauspiel in der Pantomime.

Ondrej ŠALING sang die kombinierten Rollen Šapkins und Kedrils. Leider litt Erstere unter der Unbeweglichkeit des dritten Akts doch ein wenig. Zusätzlich hatte Šaling doch Schwierigkeiten mit den Tiefen der Rolle, wenn Šapkin in seiner Geschichte den Polizisten imitiert. Dafür konnte er in der Höhe brillieren.

František ZAHRADNÍČEK ist mal wieder so ein Gorjančikov, bei dem ich mir wünschte, er hätte eine größere Rolle. Er macht seine Sache wirklich gut und sagt mir sehr zu – aber man hört nun mal leider nicht so viel von ihm. Er spielte und sang sehr überzeugend mit einer wirklich schönen Stimme.

Pavol REMENÁR als Šiškov war ein weiterer großer Erfolg des Abends. Remenár besitzt eine beeindruckende und sehr wohlklingende Stimme, die das Theater bis ins letzte Eckchen auszufüllen vermag. Er zeigt große stimmliche Beweglichkeit beim Imitieren der Dialoge in seiner Erinnerung und singt insgesamt sehr ausdrucksstark. Schade nur, daß sein großer Auftritt, der Inszenierung geschuldet, so unbeweglich war.

Štefan MARGITA spielte seine Paraderolle in dieser Oper, Luka Kuzmič und bekam obendrauf die paar Zeilen des betrunken Sträflings. Der Regisseur gehört wohl zur Fangemeinde Margitas, so sehr wie dieser die Chance bekam zu brillieren. Luka war eine der am deutlichsten ausgearbeiteten Rollen, er bekam einen klar sichtbaren eigenen Handlungsstrang, in dessen Verlauf er vom Liebhaber Aljejas und Anführer, dann von Aljeja verlassen, zum Trinker wird und in der Gefängnishierarchie fällt. Margita bekam Gelegenheiten im Vordergrund der Handlung aufzutreten, wo sein Charakter sonst nichts zu tun hat – durchaus auch zum Nachteil anderer Sänger (siehe Skuratov). Was kann ich zu seinem Gesang noch sagen? Glasklare Höhen, sanfte Tiefen und ein auffallend ausdrucksstarkerGesang… Ich habe mich längst als Fan geoutet, und Margita steigert sich in dieser Rolle jedes Mal, wenn ich schon nicht mehr der Meinung bin, daß dies noch möglich ist.

Robert JINDRA lieferte ein trotz kleiner Fehler sehr überzeugendes Dirigatsdebut am NárodníDivadlo ab. Zwar zeigten sich ein paar Einflüsse von Charles Mackerras (gerade in der Ouvertüre), aber insgesamt mangelte es nicht an eigenen Ideen und Akzenten. Jindra ordnete die Musik dem Geschehen auf der Bühne unter, so daß es an ungewohnten, aber nicht unpassenden, Stellen beispielsweise zu Fermaten oder kurzen Pausen kam. Nur leider „gelang“ es ihm, zwei oder drei Mal durch etwas abrupte Tempowechsel das ORCHESTER und einmal den Chor kurzzeitig aus dem Konzept und dem Takt zu bringen. Dem Gesamtgenuß tat dies wenig Abbruch.

Der CHOR unter Martin BUCHTA und Miriam NĚMCOVÁ lieferte eine Glanzleistung. „Neuvidíokojiž“, das Chorstück des ersten Akts, war selten so ergreifend und das trotz Taktfehler am Anfang.

Insgesamt eine vor allem musikalisch empfehlenswerte Produktion. Mein einziger ernsthafter Kritikpunkt bleibt der unverständliche dritte Akt, aber da kann man ja auch einfach die Augen schließen und zuhören.
NG