„Les Miserables“ – 6. Juni 2010

30 Jahre nach der Uraufführung kommt Boublils und Schönbergs Musical „Les Misérables“ endlich auch wieder in die Stadt, in der es größtenteils spielt… Dabei ist es auch noch der bisher einzige Ort, der das Wort „international“ im Namen der „25th anniversary national tour“ rechtfertigt.

Laurence CONNOR und James POWELL liefern eine neue Inszenierung, die sich stark von der mittlerweile zum Standard gewordenen West End/Broadway-Inszenierung unterscheidet. Nur leider nicht immer zum Besseren.

So fehlen zuerst die sonst immer eingebildeten Schriftzüge, die dem Zuschauer Ort und Zeit der aktuellen Handlung verraten. Somit ist der Anfang auch nicht auf das Jahr 1815 festgelegt, was wiederum den nächsten großen Fehler möglich macht: Die Gefängnis-Szene spielt auf einer Galeere. Meine lieben Herren Regisseure, für Galeeren in Frankreich seit ihr genau 67 Jahre zu spät – und das weiß sogar die englische Wikipedia, also könnte es jeder nachschauen. Und wenn schon Galeeren, könnte man sich dann nicht wenigstens bemühen, diese einigermaßen korrekt darzustellen?

Weiterhin gibt es eine Reihe von Kleinigkeiten, die man nicht hätte ändern müssen: Es gibt zum Beispiel einen Grund, warum Cosette und Marius beide immer nur schwarz tragen. Andere Dinge hätte man ruhig ändern können, so zum Beispiel das Fehlen des Charakters Bahorel oder die Tatsache, dass Gefängniswärter, Polizisten und Soldaten alle in Nationalgarde-Uniformen auftauchen. Leider verstrich diese Gelegenheit ungenutzt.

Schön dagegen ist der Auftritt des Jungen Petit-Gervais, wenn auch nur als stumme Rolle, dem Valjean im Buch eine Münze klaut. Noch schöner wäre es gewesen, wenn er an der richtigen Stelle aufgetreten wäre… Weiterhin werden die meisten Handlungsorte durch ein ausführlicheres Bühnenbild und die Projektion von Bildern (angeblich alle aus Victor Hugos Hand) genauer dargestellt – leider einige falsch. So findet ein Teil der Handlung im Hafen der Stadt Montreuil-sur-Mer statt… Die trotz ihres Namens nicht am Meer liegt.

Gut gefallen hat mir dagegen die Darstellung der Kloake, die hinten an der Wand entlang ziehenden Projektionen, die einem viel eher das Gefühl gaben, daß sich der Ort tatsächlich ändert. Auch Javerts Selbstmord wirkt „echter“, wenn hinter dem Sänger das Bild der Stadt nach oben fährt. Dann tauchen in der Anfangsszene auch mal Ketten auf, was die sonst eher sinnlosen Zeilen wie „when they chained me and left me for dead…“ mit etwas Inhalt füllt. Javert bringt auch ein paar Handschellen mit, als er Valjean verhaften will, die er dann auch noch passend zur Zeile „you’ll wear a different chain“ ein bißchen klirren läßt. Weniger passend ist Valjeans Verwendung derselben als Mordinstrument.

Eine größtenteils freudige Überraschung waren die Neuorchestrierungen von Christopher Jahnke, Stephen Metcalfe und Stephen Brooker. Ein Lied, Javerts Selbstmord, verbessern sie allerdings nicht – viel zu nervös klingt das Ende. Davon abgesehen sind die Neuorchestrierungen einfallsreich genug, um Abwechslung zu bieten, gleichzeitig weichen sie aber nicht so stark vom Original ab, daß die Lieder zu anders klingen.

Eine freudige Überraschung des Abends war John OWEN-JONES in der Rolle des Valjean. Alles, was ich bisher von ihm kannte, war so katastrophal, daß er für mich ein Grund gewesen wäre, mich von der Tour fernzuhalten. Umso größer die Freude über einen Sänger, der den großen Tonumfang der Rolle in beide Richtungen mühelos meistert (keine Selbstverständlichkeit), und dem es gelingt, die beiden so unterschiedlichen Aspekte der Rolle, den verbitterten Ex-Sträfling und den Philanthropen, so gut darzustellen.

Einen würdigen Gegenspieler hatte er in Earl CARPENTER. Er porträtierte Javert größtenteils als steifen und emotionslosen Polizeiinspektor doch es gelang ihm an den richtigen Stellen gerade die richtige Menge an Aufregung, Triumph oder Wut in sein Spiel zu mischen. Und der Selbstmord war mit einer Kraft gesungen, wie ich sie schon lange nicht mehr gehört habe. Weiterhin freut es mich, mal wieder einen Javert zu hören, der tatsächlich die Tiefen seiner Baritonrolle meistert (leider auch keine Selbstverständlichkeit).

Weniger begeistert war ich von Madalena ALBERTO als Fantine. Ihr Gesang aber auch ihr Spiel war wenig überzeugend. Das Schlimmste aber war ihr lautes Atemholen. Es ist zwar nicht unpassend, hin und wieder zu schluchzen, aber während ihrer beiden langen Soli holte sie so laut Luft, daß es irgendwann zu stören anfing und mir schließlich die Möglichkeit nahm, mich auf den Gesang zu konzentrieren, da ich nur noch auf das nächste „hhh“ wartete.

Ashley ARTUS und Lynne WILMOT als das Ehepaar Thénardier erfüllten ihre Rolle als Comic Relief ausgezeichnet, und ohne ihre Figuren zu sehr zu überzeichnen. Eine gute Mischung aus Frechheit, Vulgarität und aufgesetzter Hochnäsigkeit führt dazu, daß ihre Witze trotz des fortgeschrittenen Alters jener Scherze doch für Gelächter sorgen. Musikalisch liefern beide eine gute Leistung ab, wobei Thénardier seine Frau noch leicht in den Schatten stellt.

Owain WILLIAMS liefert einen überzeugenden Enjolras, der erfreulicherweise der Rolle etwas mehr mitgeben konnte als den idealistischen, furchtlosen (man hänge hier beliebig viele weitere Adjektive an, die normalerweise mit Helden assoziiert werden) Rebellenführer. So zum Beispiel seine auffällige Bestürzung, als er feststellen muß, daß das Volk seine Revolution nicht unterstützen wird.

Weniger erfreulich war Luke KEMPNERs Marius. Ihm stand nämlich keine andere Darstellungsart zur Verfügung, als die des liebesblinden Trottels, und so wenig Sympathie ich für den Charakter Marius auch habe, so finde ich doch, daß zu seiner Darstellung etwas mehr gehört. Sängerisch war Kempner nicht schlecht, aber auch nicht herausragend.

Etwas schwer fällt mir der Kommentar zur Éponine von Rosalind JAMES. Ihr Gesang war einfach eher unauffällig, zumindest ist mir absolut nichts im Gedächtnis geblieben. An ihrer Darstellung freut mich, daß sie über ihrer ganzen Verliebtheit nicht das vergaß, das Straßenkind heraushängen zu lassen, sich dementsprechend zu benehmen und damit auch zu akzeptieren, hin und wieder schlicht und einfach unsympathisch zu sein.

Die mit Abstand größte Katastrophe des Abends war Katie HALLs Cosette. Nicht nur daß die hohe Koloratur in „In my life“ völlig neben den Tönen landete, sie spielt außerdem einfach schlecht. Ihre Darstellung der Cosette ist sogar für diese sehr flache Rolle zu flach, und dann gelingt es ihr noch nicht mal das überzeugend zu tun. Stellenweise wirkte sie fast gelangweilt.

Amelia WHITE als die kleine Cosette war gesanglich ähnlich unerfreulich wie ihr erwachsenes Gegenstück. Und dabei zeigte sie im Gegensatz zu Hall noch ein schauspielerisches Talent. Robert MADGE spielt den Straßenjungen Gavroche recht überzeugend aber und auch am Gesang kann ich nichts aussetzen. Schade ist es nur um seine Todesszene, der jegliche Glaubwürdigkeit fehlt. Und das wiederum nimmt der Rolle einen Teil ihrer Tragik.

Unter den größeren Nebenrollen möchte ich noch auf einen auffällig guten Bischof von Digne in Gestalt von David LAWRENCE hinweisen. Seiner Stimme ist sofort der Opernsänger anzuhören. Weiterhin erfreulich war der Grantaire von Adam LINSTEAD. Nicht nur, daß er die Rolle gut spielt, seine Stimme klingt auch nach einem Trinker, sehr rauh, aber ohne daß darunter die Musik leiden muß. Auch sonst sind die Nebenrollen exzellent besetzt, nur fällt mir die genaue Identifizierung beispielsweise der Studenten aufgrund der Abweichungen von festgefahrenen Standards in Kostümierung etc. wesentlich schwerer als sonst.

Ein Lob noch an das stark dezimierte ORCHESTER (keine zwölf Leute) unter unbekanntem Dirigenten. Obwohl, bei genauerer Überlegung ist es möglich, daß das Lob eher dem Unbekanntem am Mischpult gebührt… Alles in allem hat der Abend meine Erwartungen, die allerdings auch extrem niedrig angesetzt waren, bei weitem übertroffen. NG