In der Opernwelt ist es wie überall in der Gesellschaft, Leute, die meinen, etwas zu sagen zu haben, trifft man allerorten. Menschen, die wirklich etwas zu sagen haben, sind in diesem Stimmengewirr weniger häufig anzutreffen, und so freut man sich, wenn sich der eine oder andere – wie nun der österreichische Tenor Norbert Ernst – Zeit für unsere Fragen nimmt.
Geboren in Wien und auf dem Land aufgewachsen, führten sein musikalisches Elternhaus und das Geigenspiel gepaart mit einer sehr guten Ausbildung an der lokalen Musikschule zu dem Wunsch Gesangspädagoge zu werden und in den Konzertberuf zu gehen.
Tannhäuser, Lohengrin, Loge, Erik, Florestan, Paul, Tristan – blickt man auf das aktuelle Repertoire überrascht es, wenn Norbert Ernst sagt: „Ich wollte eigentlich nie Oper machen. Niemals.“ Neben dem Gesangspädagogik-Studium waren Liedgesang und Kirchenmusik die Berufsziele des österreichischen Tenors. Aber weshalb keine Oper? „Weil ich der Meinung war, daß Oper viel zu oberflächlich ist und nicht in die Tiefe geht, und es nur darum geht, daß alle laut genug sind.“ Eine Vorstellung, die sich in der Praxis nicht immer bestätigt, wie er lachend zugibt. „Es gibt wirklich ganz beglückende Momente, wo einfach auch alles paßt.“
Sein damaliger Lehrer Gerd Fussi konnte ihn schlußendlich überzeugen, für Vorsingen zumindest Pedrillo und David einzustudieren. Seine erste Opernpartie war Augustin Moser in Wagners „Die Meistersinger“ an der Wiener Volksoper. Eine Vakanz in Düsseldorf brachte dann den ersten David. „Meistersinger war in weiterer Folge dann auch Türöffner zur Wiener Staatsoper mit einem Einspringen 2008 und der wirklich große Durchbruch in Bayreuth mit dieser Rolle.“
Überhaupt Wagner. „Ich war immer schon sehr von Richard Wagner, eigentlich als einzigen Opernkomponisten, als Mensch wirklich berührt und inspiriert. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, daß ich das jemals selbst machen würde.“
Unter Wagners Werken nimmt „Lohengrin“ einen besonderen Platz ein. „Es gibt Momente darin, da möchte ich am liebsten, daß diese Momente nie wieder aufhören.“ Elsas Auftritt vor dem Münster ist so ein Moment für ihn. „Das ist so großartig. Und das Brautgemach, wenn das ein Kammerstück ist und wenn es wirklich auch lyrisch, piano und schön gesungen wird, dann ist das Erfüllung, einfach so schön.“ Jess Thomas singt die Titelpartie unter dem Dirigat von Rudolf Kempe in der Aufnahme, die Norbert Ernst empfiehlt. Mit Blick auf die Art, die Partie zu singen, sei dessen Interpretation genauso, wie er es gern hätte.
Seine bisherige Karriere hat Nobert Ernst bereits zu all jenen Plätzen geführt, an denen er unbedingt arbeiten wollte. Seine Geburtsstadt Wien, München, Paris, London, New York und die Mailänder Scala sind Teil dieser Liste. „Eines muß ich noch machen, das hätte stattgefunden, ist aber Covid zum Opfer gefallen: Teatro Colón in Buenos Aires. Das möchte ich machen, auch ob der Geschichte des Hauses.“ Ansonsten wolle er dort auftreten, wo ihn die Leute haben wollen, und wo man von der Bühne käme, und Mitarbeiter des Hauses und das Publikum glücklich seien, daß man da sei. „Da will ich hin.“
Das Publikum ist dem Sänger sehr wichtig. „Es existiert eine Gemeinschaft, und zwar eine energetische Gemeinschaft zwischen Publikum und Bühne. Deshalb funktionieren Streamings für mich nicht. Wenn ich vor einem leeren Haus sitze, dann kann ich nur etwas versuchen, aber was fehlt ist das, was schon vorher an Energie auf die Bühne kommt, was ich dann aufnehmen und, im Idealfall, transformieren und zurückgeben kann. Wenn dieser Kreislauf funktioniert, dann passiert etwas.“
In der Corona-Pause hat Norbert Ernst sich nicht nur umfassend mit dem Einstudieren neuer Partien wie Tannhäuser und Siegmund beschäftigt, sondern auch mit dem Theaterarbeitsrecht in Österreich, das gut einhundert Jahre nach seiner Entstehung dringend einer Anpassung an die Gegebenheiten des modernen Bühnenbetriebs bedarf. Gerade auch die Entwicklung weg vom Ensembletheater hin zum Gastbetrieb mache dies aus seiner Sicht und der seiner Mitstreiter notwendig, um wesentliche Nachteile für Gastkünstler wie z.B. bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auszumerzen.
Das „Tannhäuser“-Debüt ist in Wuppertal mit großem Erfolg über die Bühne gegangen. Als nächstes steht Siegmund in Valencia auf dem Programm. Die kommende Spielzeit bringt die Partie des Schuiski in „Boris Godunow“ an der Mailänder Scala und auch Erik in einer Neuproduktion von „Der fliegende Holländer“ in Duisburg.
Gibt es eine Traumpartie? „Im Moment gibt es eine Partie, die ich unbedingt gern einmal machen würde. Das ist dann nicht mehr deutsches Repertoire: Peter Grimes. Das ist etwas, wo ich sage, das fühlt sich so an, als hätte ich da etwas zu sagen oder etwas einzubringen, was man vielleicht noch nicht so gemacht hat.“ Auch eine Kombination aus schon Gehörten und neuer Interpretation der Partie kann er sich hier vorstellen.
Ein weiteres Herzensprojekt betrifft das „Nibelungenlied“, und zwar eine Vertonung desselben. „Das ist ganz heftig im Werden.“ Mit ein paar Instrumenten und ganz bewußt auf Neuhochdeutsch, da er bemerkt habe, daß es immer mehr Leute gibt, denen das „Nibelungenlied“ überhaupt kein Begriff mehr sei, was er sehr schade findet. „Wenn jemand sagt, Nibelungenlied ja, ja, klar, kenne ich, habe ich aber nie gelesen oder ist mir zu lang oder ist mir zu schwer, das ist okay.“ Aber es störe ihn, daß gesagt wird: Was Nibelungenlied? Nie gehört. Zudem reizen ihn die Möglichkeit einer neuen Herangehensweise und die Chance, spannende, neue Sachen zu machen.
Benötigt die Oper neue Formate, um interessant und für ihr Publikum attraktiv zu bleiben? „Ich denke, die Oper sollte sich in ihrer strukturellen Gestalt dahingehend öffnen, daß neue Stücke nicht immer per se von einem großen, sinfonischen Apparat gespielt werden müssen. Ernstes Musiktheater kann auch mit anderem Instrumentarium und anderer Anzahl der Musiker im Graben gut und spannend stattfinden.“ Aus seiner Sicht müsse nicht immer das volle sinfonische Personal anwesend sein. Er merkt aber an, daß Stücke, die von den Schöpfern groß sinfonisch konzipiert seien, nicht, um vermeintlich eine größere Akzeptanz zu erreichen, geändert werden sollten. Die Neuheit der Formate sollte stattdessen durch eine Wandlung in der Struktur stattfinden.
Und braucht Kunst Kommerz? „Kunst braucht Kommerz nicht. Theater und auch das Konzert brauchen Kommerz bzw. das Geschäft Kunst. Der Kunst ist es egal, ob zwei Leute anwesend sind oder zweitausend. Das ändert nichts an einer ökonomischen Notwendigkeit, Gehälter zu bezahlen, Mieten zu zahlen.“
Woran fehlt es aktuell? Generell meint Norbert Ernst: „Ich würde mir mehr Mut wünschen, Mut von den Beteiligten. Es fühlt sich so an, dass wir als Gesellschaft in einer Rechtfertigungsgesellschaft gelandet sind. Wenn etwas schiefgeht, dann muß immer jemand schuld sein.“ Vieles werde nicht durchgeführt, weil man am Ende als Verantwortlicher in einer Rechtfertigungsdebatte sei. Es ginge dabei um Fragen danach, wer eine Entscheidung getroffen, Verträge ausgehandelt, einen bestimmten Regisseur oder Sänger engagiert bzw. ein Stück ausgesucht habe. „Und es fühlt sich so an, dass vieles aus mangelndem Mut, auch Mut zum Scheitern eventuell, nicht in der Konsequenz durchgeführt wird, wie es vielleicht stattfinden könnte. Und da nehme ich alle mit ein.“
Von Regisseuren und Dirigenten würde der Tenor sich u.a. wünschen, daß sie mehr Mut hätten, neue Stücke zu fordern und keine Konzessionen einzugehen. Hier wären ihm ein Konflikt am Theater, auch in der Arbeit, und Kämpfe, bei denen ein Intendant oder ein Dirigent sagen ich will das aber, lieber.
Aus seiner Sicht funktioniert das Operngenre analog zum Sport. „Ich finde das sehr vergleichbar, gerade auch mit dem Skilauf. Es gibt eine lange Vorbereitungsphase, und dann gibt es einen Moment, wo es gilt. Dann gibt es einen Startschuß. So. Und dann läuft die Uhr. Dann gibt es kein Innehalten. Man kann nicht sagen: Moment, ich brauch‘ mal kurz zu trinken, dann kommt gerade eine total schwierige Phase. Das geht nicht. Die Uhr läuft.“ Sobald ein Skifahrer in sein Rennen gestartet ist, gäbe es auch nicht die Möglichkeit ein ganz schwieriges Tor noch einmal in Angriff zu nehmen.
„Wir brauchen Mut“, wiederholt Norbert Ernst mit Nachdruck und zitiert aus Richard Strauss‘ „Ariadne“: „Musik ist eine heilige Kunst, zu versammeln alle Arten von Mut… – und die brauchen wir in der Oper, alle Arten von Mut.“
AHS (April 2022)