Lucio Gallo im Gespräch

Es gibt diesen Moment, in dem ich einen Sänger für mich „entdecke“. Bei Lucio Gallo geschah dies bei seinem ersten Grafen in der großartigen Hamburger Johannes-Schaaf-Produktion von „Le Nozze di Figaro“ 1991. In Hamburg sang er dann Belcore und Ford, bis auch er, wie so viele andere, während der Intendanz Hänseroth aus nicht nachvollziehbaren Gründen nicht mehr engagiert wurde. Seit den Hamburger Auftritten ist die Stimme enorm gewachsen. Von den Anfängen bei Mozart und Rossini hat sich der Bariton nunmehr schwereren Rollen zugewandt.

Als unser Gespräch stattfand, hatte Lucio Gallo seinen ersten Jago in Chicago hinter sich und sang die gleiche Rolle gerade mit großem Erfolg an der Deutschen Staatsoper Berlin. Jago sei für ihn ein Charakter, der zwar ölig und böse sei, aber keineswegs übertrieben dargestellt werden dürfe. Otello nenne Jago „den besten seiner Freunde“, und dies müsse glaubhaft sein. Deswegen verzichte sein Jago auch vollkommen auf höhnischen Bühnengelächter.

In Taranto, in Süditalien geboren, begann Gallo bereits mit drei oder vier Jahren, ständig für sich selbst zu singen. Mit sieben Jahren brachte er sich Gitarre bei, um die Möglichkeit zum Musizieren zu haben. Schon als Kind war ihm klar, daß es für ihn unmöglich sein würde, ein Leben ohne Musik zu führen. Selbst heutzutage singt er außerhalb der Bühne unter der Dusche, zu Hause oder beim Autofahren aus purer Freude am Singen. Trotzdem glaubte er lange nicht daran, ein professioneller Sänger zu werden. Erst sehr spät, mit zweiundzwanzig, fiel die Entscheidung, das Konservatorium zu besuchen. Zu diesem Zeitpunkt mochte Gallo vor allem Jazz, aber nicht unbedingt die Oper.

Glücklicherweise erzählte ihm ein Freund von einem phantastischen Lehrer am Konservatorium „Giuseppe Verdi“ in Turin, nämlich von Elio Battaglia. „Für mich,“ so erklärt der Bariton, „ist er der beste Gesangslehrer in der Welt.“ Von Battaglia hat Gallo, der bereits seit fünfzehn Jahren selbst unterrichtet, auch gelernt, was er nun seinen eigenen Schülern beibringt. Für jede Stimme müsse ein besonderer Weg gefunden werden. Man könne nicht jedem Schüler die gleichen Lektionen lehren, sondern müsse auf die speziellen Bedürfnisse eines jeden jungen Sängers eingehen. Es sei wichtig, gut zu singen, und nicht die Kopie eines anderen Sängers oder des Gesangslehrers zu werden. Zwar müsse man zu Beginn, wie Dietrich Fischer-Dieskau es ausgedrückt habe, ein Talent zur Imitation haben, um die Phrasen, die der Lehrer vorgebe, nachsingen zu können. Danach sei es aber sehr wichtig, selbst etwas zu entwickeln. Ziel sollte sein, daß das Publikum die Stimme später mit geschlossenen Augen identifizieren könne, weil die Stimme keine Kopie eines anderen Sängers sei, sondern Eigenständigkeit besitzt. „Dies ist speziell bei vielen jungen japanischen und koreanischen Sängern oder Pianisten ein Problem, die zwar technisch sehr gut, aber zu weit weg von ihrer eigenen Kultur sind, um eigenständige Interpretationen zu liefern. Das ist völlig normal, denn ich könnte das auch nicht beispielsweise im Kabuki-Theater, weil das für mich zu weit weg ist. Jede Region hat ihre eigene Kultur, was zu respektieren ist, aber nicht jeder kann sich genügend in eine andere Kultur einfühlen, um sie ausreichend zu verstehen. Und das merkt man dann auf der Bühne.“

1986 debütierte Gallo dann in Turin als Silvano in „Ballo in maschera“, danach folgten Auftritte in Genua in „Il figliuol prodigo“. Dies war eine glückliche Fügung für ihn, denn der künstlerische Leiter der Produktion rief Gallos Lehrer an und erzählte diesem, Luciano Pavarotti sei auf der Suche nach einem jungen Bariton für den Marcello in „Bohème“. „Ich wurde gefragt, ob ich die Oper kennen würde,“ erzählt der Sänger, „ich sagte, obwohl ich gerade erst mit dem Lernen angefangen hatte, ‚ja, kenne ich.‘ Ich lernte die Rolle dann danach.“ Es war eine besondere Erfahrung für ihn, denn es gab im Anschluß ein Gastspiel in Peking, wobei es sich um die erste italienische Produktion dort handelte.

Danach folgten Auftritte in Opern wie „Nozze di Figaro“ und „Così fan tutte“ in Italien. Im Jahre 1988 fand ein Vorsingen bei Claudio Abbado statt, der Gallo sofort für die Wiener Staatsoper für „Così fan tutte“ im Jahre 1989 unter Harnoncourt engagierte. 1990 ergab sich die erste Zusammenarbeit mit Abbado selbst in „Don Giovanni“ bei den Wiener Festwochen im Theater an der Wien mit Ruggero Raimondi, Cheryl Studer, Karita Mattila und Marie McLaughlin. Seinem Lehrer und Claudio Abbado verdankt der Künstler sehr viel, denn nachdem das Debüt in Wien erfolgte, waren plötzlich überall auf der Welt die Opernhäuser interessiert, so daß es zu Engagements unter anderem in New York, San Francisco und Japan kam. „In dem Moment, in dem man unter einem solchen Dirigenten debütiert, ist einem nicht bewußt, was passiert, dann jedoch merkt man plötzlich, daß man in einer Position ist, in der es kaum noch besser werden kann.“

Lucio Gallo glaubt, in den sechzehn Jahren, die seine Karriere jetzt schon andauert, keine großen Fehler in der Rollenauswahl getroffen zu haben. Insbesondere habe er darauf geachtet, niemals in zu großen Schritten voranzugehen. Viele Häuser haben ihm bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt Rollen angeboten, die er erst jetzt langsam zu singen beginnt. Bis vor zehn, elf Jahren beschränkte er jedoch auf Mozart, Rossini, etwas Donizetti und vor allem Liedgesang. Mit dieser Art von Repertoire könne man seine Stimme fördern und schützen. Für Verdi und Puccini müsse man erst reif werden, was nicht allein die Stimme betreffe. Wenn man reif genug sei, könne man den Körper besser beherrschen, während in jüngeren Jahren die Versuchung zu groß sei, Dinge zu machen, für die man noch nicht bereit sei. Allerdings hatte der Künstler bereits während der ersten Auftritte in Mozart-Opern das Gefühl, das noch mehr möglich sei, insbesondere aufgrund des Temperaments. Schon während des Studiums studierte er mit seinem Lehrer den Holländer-Monolog und Verdi-Arien. „Wenn man ‚Die Winterreise‘ gesungen hat, wie ich es viele, viele Male getan habe, diese vierundzwanzig Lieder, merkt man, was noch mehr drinnen ist.“

1995 sang Gallo als Experiment seinen ersten Scarpia in Turin. 1999 folgte dann der Wozzeck in Palermo, wobei er der erste Italiener war, der die Rolle in der Original-Sprache sang. Die erste richtige Verdi-Rolle war der Paolo Albiani, nur eine kleine Rolle zwar, aber bereits mit vielen Zügen von Jago. Es folgten der Ford, Posa, Amonasro und Germont, was sehr gut ging. 2000 debütierte er dann an der Staatsoper Berlin als Macbeth, worüber er sehr glücklich war. Eigentlich war eine Produktion von „Les Troyens“ geplant gewesen, die abgesagt wurde. Aufgrund des Paolo Albiani in der Berliner Philharmonie 1999 fragte man dann nach dem Macbeth. Gallo sagte zu und erlebte einen großen persönlichen Erfolg in dieser Rolle, die er im Januar 2002 in Marseille und im Mai des gleichen Jahres erneut in Berlin singen wird.

Macbeth ist für ihn ein Mann, der gerne eine hohe Position hätte, aber dem der Mut dafür fehle, diese zu erreichen und sein Leben dafür zu ändern. „Die Leute sehen ihn als eine Art Monster, aber das wirkliche Monster ist die Lady. Vielleicht mit einer anderen Frau würde er das nicht tun, was er tut, nämlich immer wieder töten. Wenn man die ganze Geschichte betrachtet, ist er mit dieser bösartigen Frau ein armer Mann. Das ist wohl keine gute Ehe.“ In der Berliner Produktion tötet Macbeth Banquo selbst. „Das was Peter Mussbachs Idee, und es war nicht schwer, mich davon zu überzeugen, denn Macbeth vertraut niemandem, nur sich selbst. Es hat sich in den Kritiken auch niemand daran gestört. Das war eine starke Szene, und ich liebe sie. Gerade dieser Mord macht Macbeth immer wahnsinniger und irrer bis zu seinem Ende.“

Eigentlich sollte der erste Schritt ins schwerere Repertoire erst im Herbst 2001 erfolgen mit dem Jago in Chicago, welcher bereits vier Jahre zuvor feststand. Zwar war der Sänger ein wenig ängstlich, aber alle redeten ihm zu. Ein Jahr später kam dann das Engagement für den Jago in Berlin, da man wußte, daß die Premierenbesetzung die Vorstellungen im November 2001 nicht würde singen können. Zuerst wollte Daniel Barenboim in einer Probe ausprobieren, ob Gallo den Jago singen könnte, doch nach dem Macbeth hielt er das nicht mehr für nötig. „Daniel war so begeistert, so rücksichtsvoll. Für mich ist er ein echtes Genie: ein wundervoller Dirigent, Pianist, Liedbegleiter.“

Im Dezember 2001 wird der erste Rigoletto in Palermo folgen, im Sommer 2002 wechselt Gallo in Florenz vom Paolo in die Titelrolle des „Simone Boccanegra“. Geplant ist auch das Debüt in Zemlinskys „Eine florentinische Tragödie“ in Brüssel. Im Herbst 2002 folgt dann die erste Wagner-Rolle, der Telramund in Bologna. In Frankfurt wird er sich an den Holländer wagen, eine Partie, die ihn fasziniert. Ein Fernziel sei der Wotan, der jedoch noch etwas warten solle. Zwischen diesen neuen Rollen sind natürlich auch weitere Auftritte geplant wie ein Onegin in San Francisco, ein Sharpless in London sowie Konzerte und Liederabende. „Ich mag es auf diese Weise, denn fünfzig Vorstellungen Jago hintereinander zu singen, ist ein Risiko. Es ist für mich viel besser ein breiteres Repertoire zu haben, da dies die Intelligenz wesentlich mehr fordert. Ich bleibe dadurch wacher.“ Es gibt keinerlei Berührungsängste zu bestimmten Repertoires. Gallo hat ebenso erfolgreich Dallapiccolas „Il prigioniero“ gesungen wie Golaud in „Pélléas et Mélisande“, Valentin, Escamillo oder Rangoni.

Eine neue Rolle studiert der Bariton ein, indem er zunächst mit der Partitur beginnt. „Ich stelle diese auf das Klavier, werfe jeden Morgen einen Blick darauf und beschließe, an diesem Tag anzufangen. Einige Tage später öffnete ich die Partitur erstmals, lese die ersten sechs bis acht Seiten und sage mir dann: ‚Das ist so schwer. Bist du eigentlich der Meinung, das ist eine gute Idee?‘ Ich beginne dann, die Partie zu lernen. Wenn ich das Gefühl habe, die Musik gut zu kennen, gehe ich die Rolle erst mit meinem Lehrer und später einem Korrepetitor durch. Danach höre ich mir dann eine Aufnahme an, aber erst in diesem Stadium, in dem ich mir der Noten sicher bin, denn ansonsten ist die Gefahr zu groß, daß man sich Fehler einprägt und die dann selbst wiederholt. Der Rolle wirklich sicher bin ich mir allerdings frühestens am Ende der ersten Produktion, vorher niemals. Und auch dann ist es noch nicht endgültig, Man ändert hier noch etwas und dort. Wenn man sich einbildet, an einer Rolle nichts mehr verändern zu wollen, ist das der Anfang vom Ende. Es gibt immer etwas neues.“

Gallo versteht zu achtzig Prozent deutsch, spricht es jedoch nicht, da die Grammatik so kompliziert sei. Sein erstes einstudiertes Stück war interessanterweise ein Schubert-Lied auf deutsch. Russisch für den Onegin hat er phonetisch gelernt, wobei er die Bedeutung der Worte sich merken mußte. Es sei allerdings eine große Anstrengung gewesen, sowohl Musik als auch den Text und dessen Bedeutung im Gedächtnis zu behalten. Sich einem Stück in einer Sprache zu nähren, die man nicht spreche, gehe am besten von der Musik her, der Text würde sich dann leichter erschließen. Jedes Wort werde von einer musikalischen Phrase unterstützt, die in einer bestimmten Farbe dem Wort Bedeutung gebe. Zu singen und nichts zu verstehen, sei allerdings wirklich gefährlich. „Vielleicht ist, wenn man an Mirella Frenis Tatjana oder Leo Nuccis Onegin denkt, Russisch für Italiener nicht so schwer zu lernen.“

Der „Eugen Onegin“ an der Deutschen Oper Berlin ist nach Auffassung des Sängers eine der besten Produktionen, an denen er jemals mitgewirkt habe, zwar sehr minimalistisch, weil sich fast nichts auf der Bühne befand, aber gerade das Finale sei großartig gewesen. Mit großer Bewunderung spricht er über die Zusammenarbeit mit Götz Friedrich, dessen Tod ein großer Verlust sei. Diese Zusammenarbeit mündete in einer unglaublich dichten Interpretation der Titelrolle mit ungeahnten Tiefen, die sowohl Tschaikowsky als auch Puschkin vollkommen gerecht wurde.

Wenn Lucio Gallo über seinen Beruf spricht, verbreitetet er einen ansteckenden Enthusiasmus und ist von einer seltenen Begeisterungsfähigkeit. Die Arbeit beginne für ihn nicht erst bei der Vorstellung, sondern bei den Proben, die er voll aussinge, auch wenn dieses manchmal gefährlich für die Stimme sei, insbesondere bei langen Probenzeiten. Er benötige dies aber zu Übungszwecken, denn die Interpretation, den richtigen Zugang zu einer Rolle, könne er nur dann finden, wenn auch Adrenalin fließe. Die darstellerische Intensität entwickle sich für ihn aus der Musik, und hierzu sei es eben notwendig, nicht nur zu markieren. Singen und spielen bildeten eine Einheit, was jedoch ausreichend geprobt werden müsse. Lucio Gallo ist ein Sänger, der auch immer wieder für seine darstellerischen Leistungen gelobt wird. Er mag es, sich auf der Bühne zu bewegen, und steht avantgardistischen Inszenierungen aufgeschlossen gegenüber. Diese müßten dann jedoch immer die Partitur respektieren und dürften sich nicht gegen die Musik richten. Wenn dies nicht der Fall ist, sei eine konzertante Aufführung mit einigen Lichteffekten dem vorzuziehen. „Ich diene dem Komponisten, dem Dirigenten und dem Regisseur, aber wenn etwas gegen die Musik ist, hat mich der Regisseur von dem Sinn zu überzeugen. Wenn ich nicht überzeugt bin, funktioniert es einfach nicht.“

Wirkliches Lampenfieber kennt Gallo nicht. Er betritt die Bühne mit kühlen Händen; allerdings muß er sich dann erst an das Publikum gewöhnen. „Aber es ist der Beruf, den ich liebe, aus diesem Grund ist es kein Problem. Es erinnert mich jedoch daran, daß ich etwas besonderes tue.“ Lediglich, wenn er nicht in Form sei beispielsweise wegen einer Erkältung, und die Vorstellung aber nicht absagen könne, sei er schrecklich nervös und deprimiert. „Dann ist es auch besser, wenn ich allein bin, denn in diesem Fall bin ich kein guter Ehemann und Vater für Frau und Töchter.“

Als Vorbilder benennt er Dietrich Fischer-Dieskau, der sich jede Rolle, auch die Opernpartien, für die er manchmal kritisiert wurde, erarbeitet habe, weil dieser alles, jedes Wort, jede Note, über die Rolle wußte, Tito Gobbi und Maria Callas, die in der Oper eine Revolution ausgelöst habe, was niemand wiederholen könne. Diese Künstler hätten bewiesen, ein guter Sänger könne alles singen.

Zu Lucio Gallos Lieblingsrollen gehören der Don Giovanni, den er an der Scala unter Muti gesungen hat, aber auch der Leporello, den er im Mai 2002 in Berlin unter Barenboim mit René Pape in der Titelrolle nach längerer Zeit wieder singen wird, aber auch, für einen italienischen Sänger vielleicht überraschend, der Wozzeck. „Ich glaube, daß der ‚Wozzeck‘ das Meisterwerk des letzten Jahrhunderts ist. Ich war so glücklich, die Rolle singen zu können.“ Natürlich gehören auch Jago und Macbeth zu den Lieblingen, und Rigoletto könnte einer werden, „aber das werde ich entscheiden, wenn ich ihn gesungen habe“. Zu den Lieblingsopern gehören „Otello“ und „Falstaff“. Man könne deutlich sehen, wie Verdi und seine Art, für die Baritonstimme zu schreiben, sich vom „Oberto“ und den anni di galera entwickelt haben. Mozarts Musik sei von Beginn an sehr reif gewesen, während Verdi sich entwickelt habe. Mozart möchte der Sänger trotz des schweren aktuellen Repertoires weiterhin singen, insbesondere den Grafen.

Wenn der Bariton nicht singt oder unterrichtet, verbringt er die Zeit mit seiner Frau und den zwei Töchtern. Er liest gern, mag Filme und geht in den Städten, in denen er auftritt, auf Entdeckungstour. „Ich weiß, daß Sänger wegen der Stimme im Theater und im Hotel bleiben sollten. Aber ich kann das nicht. Ich muß mir alles ansehen, die Museen, die Sehenswürdigkeiten. Einer der Vorteile dieses Zigeunerlebens ist, daß man sich diese Dinge überall anschauen kann.“ Und wenn die Oper ein reizvolles Programm hat, geht er auch dann in die Oper, wenn er selbst nicht singt.

Wir danken Lucio Gallo für die gewährte Zeit, wünschen ihm alles Gute für die Zukunft und sind gespannt auf die vielen neuen Rollen. MK