„In chiesa!“ ist das Motto der aktuellen „Tosca“-Produktion des Theater Lüneburg. Die Aufführungen finden nämlich nicht im Theater statt, sondern in der St. Johannis-Kirche. Diese macht atmosphärisch zwar bedeutend mehr her als die eigentliche Spielstätte, hat allerdings so ihre Tücken. Kam die Akustik dem brillanten Orchester definitiv zu Gute, war sie für die Sänger im besten Fall unvorteilhaft – zumindest von meinem Platz im hinteren Drittel aus.
Gespielt wurde ohne Pause und ohne die Szene Mesner/Kinderchor. Weshalb man sich für eine halbszenische Produktion entschied ist mir ein Rätsel. Man hat eine Bühne und einen Regisseur (Wolfgang BERTHOLD), also steht einer Vollproduktion eigentlich nichts im Wege.
Für eine gute Regie braucht es nicht viele Requisiten. Mit einem Tisch und ein paar Stühlen kann man packendes Theater liefern – ohne auch. Eine ausgefeilte Personenführung mit spielfreudigen Sängern reicht aus. Ersteres gab es leider nicht. Nahezu den gesamten ersten Akt sitzen alle Sänger teilnahmslos an einem Tisch und stehen mal auf. Alle Protagonisten tragen moderne Kleidung und eine Kamera filmt weite Teile des (Halb-Nicht-)Geschehens, das Resultat dessen wird auf den Bühnenprospekt projiziert – das muß dann wohl dieses ominöse Regietheater sein, von dem alle reden. Aber an der Rampe stehen/auf Stühlen sitzen und ins Publikum singen, wird durch moderne Gewänder nicht besser, geschweige denn gut. Vielleicht sollte das ja aber auch die eine Hälfte von „halb-szenisch“ sein.
Mein absoluter Fremdscham-Moment war die Ermordung Scarpias. Während Tosca und Scarpia an Notenpulten stehen, läuft im Hintergrund selbige Szene aus der Met-Produktion mit MacNeil und Verrett (Regisseur Tito Gobbi!), die dann noch mal sehr viel heller wiederholt wurde (wir sind ja modern – vielleicht wurde das ja sogar mit KI gemacht!?). Meine Vermutung ist, daß die „Hausherren“ Vorgaben gemacht haben, was auf der Bühne zu sehen sein darf und was nicht. Wie dem auch sei, hätte man dieses doch ins Off verlegen können – Kopfkino ist doch eh gerne mal brutaler als die Realität.
Bei der Schein-Scheinhinrichtung hingegen gab es dann erstaunlicherweise keinen erschossenen Pavarotti, sondern ein durchaus sinnhaft-symbolisches und eindrückliches Bild. Auch die Folterszene hatte ihren Charme. In dem Stil hätte aus der Produktion was werden können. Schade.
Die musikalische Seite konnte im Rahmen der akustischen Möglichkeiten jedoch entschädigen. Allen voran ist die furios liebende und leidende Antje BORNEMEIER zu nennen, die sich mit Verve und angemessenem Pathos in die Rolle reinschmeißt, aber auch ein Gespür für feine, verletzliche Zwischentöne hat und sich sogar im Finalduett mal einen Blick gen Cavaradossi traut. Sie beherrscht die Kunst des gesungenen Schreis perfekt und kann auch darstellerisch überzeugen. Bitte mehr davon!
Toscas Widersacher war mit Dmitry LAVROV solide besetzt. Er verfügt über sehr gutes Stimmmaterial, aus dem er allerdings mehr machen könnte. Sein Scarpia war mir zu eindimensional. Mit purer Boshaftigkeit allein ist der Rolle nicht beizukommen. Mir fehlte die Raffinesse, das Buhlen um Tosca.
Die Leistung des nunmehr letzten verbliebenen Ensemblemitglieds Karl SCHNEIDER (Cavaradossi) zu beurteilen, ist nahezu unmöglich, da die Akustik aus seinem Vortrag ein undefinierbares Etwas gemacht hat. Über weite Teile klang er, als ob er im Off in einem Container in eine Blechbüchse gesungen hätte. Wer ihn kennt, weiß, daß er durchaus singen kann, und wenn man sein ausnahmsweise gut hörbares „E lucevan stelle“ zurückrechnet, kann man auch eine insgesamt sehr stimmige Leistung vermuten. Eine Wiederholung im Theater wäre wünschenswert.
Unter den Nebenrollen stach Alexandra NYGAARD als Hirte positiv heraus. Eric KELLER (Angelotti – der frisch Gefolterte von heute trägt feinen Zwirn), Andrea MARCHETTI (Spoletta) und Steffen NEUTZE (Sciarrone) ergänzten solide. Yianghao LIU (Mesner) hat eine angenehme Stimme, mir fehlte jedoch das komödiantische Element.
GMD Gaudens BIERI entlockte den bestens aufgelegten LÜNEBURGER SYMPHONIKERN einen satten Sound und zeigte, daß sich Präzision und Ausdruck keinesfalls ausschließen, sondern auch begünstigen können. Der rein orchestralen Leistung tat die hallende Akustik immens gut. Das führte allerdings leider dazu, dass die Sänger ab und an zugedeckt wurden. Die nächsten Male könnte vielleicht das „Piu forte“ nicht ganz so ernst genommen werden. Der OPERN- und EXTRACHOR des Theaters sowie Mitglieder der KANTOREI ST: JOHANNIS unter Elsine HAUGSTAD absolvierten ihren kurzen Part ohne Fehl und Tadel. WFS