„Mass“ – 30. April 2017

Das Theater Lübeck bringt Leonard Bernsteins „Mass“ ganz im Sinne des Komponisten szenisch auf die Bühne und wird mit einem ausverkauften Haus belohnt.

Wie interagieren diejenigen, die um jeden Preis glauben wollen, und die, die mehr wollen und die Regeln in Frage stellen? Was, wenn sich Anarchie Weg am heiligen Ort bahnt? Was geschieht, wenn derjenige, von dem man die Antworten auf alle Fragen und Zweifel erwartet, schließlich auch keine Lösungen mehr bieten kann und an all den Forderungen zerbricht? Das ist nicht nur im kirchlichen Kontext interessant.

Tom RYSER gelingt es mit seiner Inszenierung, dem Stück mehr Tiefe zu geben als die Musik allein eigentlich bietet. Er schuf die perfekte Symbiose von lebendigen Bildern voller Lebenslust und ruhigen Momenten des Innehaltens und der Zweifel, von bunter Fröhlichkeit und streng ausgelegtem Glauben. So der Zuschauer mag, werden nicht nur Auge und Ohr, sondern auch der Kopf gefordert.

Gemeinsam mit Stefan RIECKHOFF (Ausstattung) und Falk HAMPEL (Licht) gestaltet der Regisseur mit immer neuen Bildern und Ebenen die perfekte Spielfläche zum Austragen der schwelenden Konflikte. Da werden Darsteller, Chor und Teile des Orchesters immer wieder anders im Haus positioniert. Es entstand nicht nur visuell, sondern auch akustisch die perfekte Illusion einer Kirche.

Angelpunkt und Katalysator des Stücks ist der Celebrant. Er leitet den Gottesdienst bzw. versucht es zumindest und trägt jedwede Unterbrechung mit scheinbar stoischer Gelassenheit. Das langsame, aber stetige Bröckeln dieser Fassade wurde von Gerard QUINN anfangs fast unmerklich, aber mit immer deutlicher werdender Körpersprache aufgezeigt. Das sich lange Zeit Beherrschen gipfelt sich in einem großartig gespielten und gesungenen Ausbruch, der die Gemeinde ratlos zurückläßt und dem Zuschauer Gänsehaut bescherte.

Ein interessantes Mittel die Gedanken und Gefühle des Celebranten indirekt sichtbar zu machen war die Gruppe von Tänzern, die sich mal im Zentrum des Geschehens, während der Gebete aber im Hintergrund (Choreographie: Lillian STILLWELL) bewegte. Mit Lucy VAN CLEEF, Andrew CUMMINGS, Eléonore TURRI und Sayo SHIBA hat das Theater Lübeck ausgezeichnete Interpreten für diese Aufgabe gefunden. Lange hatte man nicht mehr soviel Vergnügen daran, Tänzern in einer Opernaufführung der Hansestadt zuzusehen.

Eine grandiose Besetzung hat man in Lübeck auch für den Street-Chorus gefunden. Ob Robert MEYER, Rob PITCHER und Elizabeth KING als Rock Singers oder die Blues Singers Alice Susan HANIMYAN, Adi WOLF und Darrin Lamont BYRD, jeder für sich setzte sängerisch wie darstellerisch Glanzpunkte, und doch funktionierten sie als Gruppe ausgesprochen homogen. Mühelos fügten sich Caroline NKWE, Fiorella HINCAPIÉ und Grzegorz SOBCZAK vom Opernstudio sowie Emma McNAIRY und Janne Marie PETERS hier mit gleicher Qualität ein. Die Grenzen zwischen Musical und Oper waren fließend, verbindend die Musik und der Spaß am Spiel, was sich rasch von der Bühne auf die Zuschauer übertrug.

Dem Street-Chorus gegenüber stehen die Gläubigen, die anfangs dem Celebranten folgen, seine Ansichten verteidigen, mehr und mehr, getrieben auch von den eigenen Ängsten und Nöten, sich aber vom Glauben in der durch ihn vorgegebenen Form abwenden. CHOR und EXTRACHOR (Leitung: Jan-Michael KRÜGER) leisteten unterstützt vom PHEMIOS KAMMERCHOR erstklassige Arbeit. Ein schöner Vorgeschmack auf die „Carmina Burana“ in der nächsten Spielzeit. Der Kinder- und Jugendchor VOCALINO und die Mitglieder des NORDELBISCHEN KNABENCHORS standen ihren erwachsenen Kollegen in nichts nach. Matti RAUPERS (Knabensopran) verfügt über eine für sein Alter erstaunliche Bühnenpräsenz.

Alexander WINTERSON am Pult des PHILHARMONISCHEN ORCHESTERs hielt den Abend ausgezeichnet zusammen, was ob des wilden Treibens auf der Bühne, im Orchestergraben und im Haus vermutlich nicht ganz einfach war. Die Kombination von liturgischen, opernhaften und Musical-Elementen gelang auch orchestral perfekt.

Für mich definitiv die beste Neuproduktion der aktuellen Spielzeit. AHS