„Engel in Amerika“ – 22. November 2019

Ich maße mir an, Tony Kushners Stück „Angels in America“ überdurchschnittlich gut zu kennen. Ich besitze die Miniserie und die Uraufführung der Oper auf DVD, ich habe die Oper in Hamburg gesehen, das gekürzte Stück am Thalia-Theater und die vollständige Fassung verteilt auf zwei Abende im Kino als Übertragung aus London.

Tony Kushner zeichnet in seinem Stück ein Zeitbild der USA der achtziger Jahre unter Reagan, repressiv und mit dem Auftreten von AIDS als ständiger Bedrohung. Ich kann nur vermuten, daß der Regisseur meinte, das Stück mit unserer heutigen Realität verknüpfen zu wollen – das liegt nicht fern, insbesondere wenn man weiß, daß Donald Trump ein gelehriger Schüler von Roy Cohn, dem Schreckgespenst des liberalen Amerikas, gewesen ist. Der Text enthält unzählige Sätze, die heute noch genauso relevant sind, wie sie es bei Entstehung des Stücks Anfang der neunziger Jahre waren. Dumm nur, daß diese Sätze nicht vorkommen, aus dem Zusammenhang gerissen werden oder einfach verpuffen.

Das Bühnenbild von Michael KÖPKE wird von einer Drehbühne mit zunächst gläsernem Käfig beherrscht. Damit könnte man leben, ebenso mit den Kostümen von Sara KITTELMANN, auch wenn das ständige Tragen von Röcken durch die Männer irgendwann nervte, weil sich nicht erschloß, was dies aussagen soll. Daß alle männlichen Figuren schwul sind, ist schwer zu übersehen, und bedarf einer solchen, zudem noch falschen, Symbolik nicht.

Was allerdings Regisseur Marco ŠTORMAN geritten hat, die Charaktere sinnlos über die Bühne tänzeln und sich in ständigem Posieren verlieren zu lassen, ist völlig unverständlich. Daß das Stück von siebeneinhalb Stunden auf zwei Stunden fünfzehn Minuten inklusive Pause zusammengekürzt wurde, und die Szenen auch noch in falscher (und somit nicht logischer) Reihenfolge gespielt werden, macht es nicht auch besser. So fragt Harper ihren Mann Joe schon vor ihrem Zusammentreffen mit Prior in ihrer Halluzination, ob er schwul sei. Auf die Idee, daß dies sein könnte, bringt sie jedoch erst Prior. Daß sich Zuschauer wiederholt in der Pause und nach der Vorstellung fragten, was das eigentlich alles soll, verwundert nicht. Selbst ich hatte Probleme, der Handlung zu folgen trotz meines vermuteten Wissensvorsprungs gegenüber den meisten anderen Besuchern.

Noch schwerer wiegt allerdings, daß die Produktion glatt meint, auf zwei Hauptcharaktere verzichten zu können. Joes Mutter Hannah fehlt völlig, die Rolle des schwarzen, schwulen Mannes Belize fehlt auch, der Text wird teilweise von einer weißen Frau übernommen, die offenbar auch den Engel spielt, der hier aber als solcher kaum erkennbar ist. Die kontinentalen Engel fehlen ebenfalls. Da Hannah und Belize fehlen, gibt es auch nicht die Szene im Krankenhaus mit dem sterbenden Roy Cohn. Wieso Prior seine Krankheit eigentlich überlebt – das Stück spielt in den Achtzigern, da war eine AIDS-Erkrankung ein sicheres Todesurteil – wird somit auch nicht weiter aufgeklärt.

Was mir am meisten aufstieß, ist der Umstand, daß durch das Fehlen von Belize der Monolog von Louis, in dem er meint, einem Schwarzen Rassismus erklären zu müssen, nicht mehr die Wirkung hat, weil sein Gegenüber fehlt. Wenn sogar bei der Opernversion, in der Belize eine Countertenorrolle ist, bei der Uraufführung mit Derek Lee Ragin und in Hamburg mit dem viel zu früh verstorbenen Brian Asawa Besetzungen durch persons of colour möglich waren, fragt man sich schon, wieso kein schwarzer Schauspieler besetzt wurde – zumal bei einem Theater, das sich zumindest in der Öffentlichkeit engagiert gegen Rassismus ausspricht.

Schade eigentlich, denn mit dem Ensemble, ergänzt um zwei weitere Schauspieler, hätte man das Stück adäquat auf die Bühne bringen können. Will WORKMAN (Prior), Heiner KOCK (Louis), Stephanie SCHADEWEG (Harper) und Peter ELTER (Joe) sind kompetente Darsteller, Astrid FÄRBER (sie übernimmt als „Herr Lüg“ Texte des Engels und von Belize) ist darüber hinaus auch gesanglich sehr anhörbar und wird hier gut von Thomas SEHER begleitet. Ich kann mir auch vorstellen, daß Robert BRANDT einen überzeugenden Roy Cohn spielen könnte, wenn er nicht gezwungen wäre, als zappeliger Kasper über die Bühne zu hüpfen, anstatt das abgrundtief Böse dieser Figur darstellen zu dürfen. Aber, ach, es sollte nicht sein.

Immerhin gab es zu dieser Produktion noch ein normales Programmheft, was dem Stück mehr gerecht wurde als die Inszenierung. Ein schwacher Trost, aber so hatte man wenigstens etwas zum Lesen dabei. MK