„Eugen Onegin“ – 21. Oktober 2023

Selten sind wir uns über eine Inszenierung so uneins wie über diese. Ganz allgemein gestaltete sich der Abend allerdings interessanter als der, den ich Anfang Oktober in der Premierenbesetzung gesehen hatte.

Onegins Entwicklung verläuft in dieser Produktion anders als sonst. Sind Arroganz und Härte anfangs noch deutlicher Schutzschild, zeigt die Figur am Ende mit dem Besitzanspruch an Tatjana und der Weigerung, ihre Ablehnung einzusehen, recht unsympathische Züge. Das läßt sich als Reaktion aus den Geschehnissen sicherlich herleiten, aber es ist schade um den in der Musik zelebrierten Wandels des Charakters im 3. Akt.

Jacob SCHARFMAN gehört unbestritten zu den wirklich guten Onegin-Interpreten, der die widersprüchlichen Seiten des Charakters gut über die Rampe zu bringen weiß und nicht nur Tatjana, sondern auch das Publikum rasch für die Figur einnahm.

Schaut man sich das Repertoire an, das man in Lübeck von diesem Bariton bereits hören durfte, überrascht es wenig, daß seine Wandlungsfähigkeit auch in Tschaikowskis (Anti-)Helden keine Grenze hat. Die Stimme wird stets präzise geführt, ist charaktervoll, ohne daß es an Wärme fehlt, und mit vielen Facetten sowie einem satten Klang ausgestattet.

Im Vergleich dazu erschien mir Tatjana ein wenig blaß. Das lag nicht an Evmorfia METAXAKI, die die Partie mit der ihr stets eigenen Inbrunst und vielen spannenden, stimmlichen Details perfekt sang, mir fehlte vom Konzept her schlichtweg die Entwicklung der Figur, die musikalisch eigentlich vorgezeichnet ist.

Tatjana als kreative, schreibende Person zu zeigen, die ihre fantasiereiche Traumwelt selbst zu Papier bringt, kann man sicherlich in das Stück einbringen, aber wenn z.B. der Brief an Onegin in der Briefszene schon geschrieben ist, beraubt das aus meiner Sicht die Oper eines wichtigen dramatischen Höhepunkts.

Neu war an diesem Abend Noah SCHAUL als Lenski. Daß in ihm mehr steckt, als man in Lübeck bisher hören durfte, stand von vornherein fest, die stimmliche Bravourleistung gepaart mit überbordender Spielfreude und präzisem Timing überraschte dann trotzdem. Der junge Tenor brachte eine schwärmerische Lebendigkeit auf die Bühne, die ansteckend wirkte und dem Konzept in Vielem plötzlich Sinn verlieh.

Von mir gibt für jedes innig gesungene „В вашем доме“ schon die volle Punktzahl, egal wie die Lenski-Arie hinterher klingt. An diesem Abend wurde beides makellos und ausgesprochen schön dargeboten. Und wenn selbst das Wort Cotillon aussprachekonform daherkommt, muß man zur exzellenten Sprachbehandlung nichts mehr ergänzen.

Laila Salome FISCHER blühte an diesem Abend förmlich auf. Mit ihrer samtig klingenden Stimme bot sie eine virtuose Ergänzung zu Olgas Dichter und einen guten Gegenpol zu Tatjana. Die stets kindliche Unbekümmertheit und das ungläubige Unverständnis, mit dem Olga auf Lenskis Eifersuchtsausbruch reagiert, brachte der Mezzosopran nicht nur in Mimik und Gestik, sondern auch stimmlich auf den Punkt.

Larina erfuhr durch Julia GROTE mit ihrer Präsenz eine wirkliche Aufwertung. Man sah und hörte eine elegante Frau, in der trotz Provinz und fast erwachsener Töchter immer noch etwas von der schwärmerischen Debütantin früherer Tage steckte. Edna PROCHNIK sang Filipjewna mit einer der Amme perfekt entsprechenden Herzenswärme.

Rúni BRATTABERGs sprachlich ausgefeilte Darbietung der Gremin-Arie zeigte, daß ihm die stimmliche Disziplin in der parallellaufenden „Simon Boccanegra“-Produktion guttut. Es war noch kein Fiesco-ähnlicher Erfolg, aber durchaus nah dran.

Yong-Ho CHOI gab einen recht polterigen, aber gut gesungenen Saretzki. Von Simon RUDOFF hörte man einen großartigen Trifon Petrowitsch. Mark MCCONNELL und Jean Pierre ROUX ergänzten als herrlich stieseliger Triquet bzw. präsenter Guillot.

CHOR und EXTRACHOR (Leitung: Jan-Michael KRÜGER) gelang es ein weiteres Mal, auch die Aufgaben neben der eigentlichen Funktion lebendig zu gestalten, ohne daß der Klang darunter litt. Eine wirklich gute Gesamtleistung. Leider verrät das Lübecker Theater immer noch nicht, wer denn der Vorsänger im ersten Akt ist. Schade, aber seine exzellente Leistung sei auch ohne namentliche Nennung hervorgehoben.

Takahiro NAGASAKI hatte den Abend wesentlich besser im Griff als zu Beginn des Monats, was sich ausgesprochenen positiv auf die Leistung des ORCHESTER auswirkte. Man hörte über Tschaikowski im besten und virtuosen Sinne.

Lübecks Musiktheater ist aktuell durchaus gut aufgestellt und auch weiterhin eine Reise wert. AHS