„La Traviata“ – 14. Juni 2019

Amoral, Tuberkulose und Zombies

Wo liegt eigentlich das Problem, Verdis „La Traviata“ stückkonform zu inszenieren? Es fängt wohl schon damit an, daß der Unterschied zwischen Kurtisane und Prostituierter heutzutage anscheinend schwierig zu verstehen bzw. zu vermitteln ist.

In Lübeck ging es daher auch gleich zu Beginn audiovisuell richtig zur Sache, was sich durch den kompletten Abend zog. Auf dem Hamburger Kiez wäre es vermutlich teurer gewesen als unsere Karten an diesem Abend, aber die Qualität der entsprechenden Darbietung war auch eher schwach. Nach dem entsprechend unterstützten Brindisi gab nicht einmal den Ansatz von Applaus – irgendwie auch eine Leistung.

María Fernanda CASTILLO hinterließ als Violetta einen zwiespältigen Eindruck. Grandios war sie in der Konfrontation mit Giorgio Germont, und auch in „Gran Dio! morir sì giovane“ hörte man das an Kraft, Leidenschaft und vokalen Farben, was schon im letztjährigen Weihnachtskonzert so gut gefallen hatte. Leider vermisste man jedoch Geläufigkeit und Leichtigkeit in der Stimme. Ihr im letzten Akt Angela SHIN (Annina) auch gesanglich zur Seite zu stellen, sie übernahm Teile von Violettas Passagen, war letztlich vielleicht unklug, denn die junge Sängerin verfügt über jene stimmliche Flexibilität, ein gutes Gespür für die Entwicklung selbst einer kleinen Partie und eine unglaubliche Bühnenpräsenz.

Jaesig LEE begann den Abend vielversprechend. Sicher war er nicht der großartigste Alfredo, den man je gehört hat, aber solide im Klang, hin und wieder auch mit Schmelz in Stimme und anhörbaren Ausbrüchen. Leider baute er nach der Pause stimmlich ab und schien sich auch weniger im Konzept zurechtzufinden.

Braucht man (ich) bei Verdi viel mehr als einen guten Bariton? Gerard QUINN ist nicht nur in Verdi-Partien eine Bank, aber gerade hier kann er die Stärken seiner Stimme, die Vitalität, die nuancenreichen Farben und die musikalische Akkuratesse, mühelos ausspielen. Er verlieh Giorgio Germont – Koffer wie unkleidsamen Kostüm zum Trotz – Würde und Autorität, und als er mit der ihm von Alfredo auf den Kopf aufgesetzten Narrenkappe mittels eiskalten Blickes sein Gegenüber fixierte, mochte wohl niemand auch nur ansatzweise rebellieren.

Beomseok CHOI (Baron Douphol) klang recht ansprechend. Szymon CHOJNACKI ist zurück in Lübeck, wenn auch nur als Marquis d’Obigny; hoffentlich hört man bald wieder mehr von ihm. Taras KONOSHCHENKO gab als Dottore Grenvil stimmlich eine Luxusvorstellung. Hojong SONG überzeugte als Gastone weniger. Iuliia TARASOVA ging als Flora ein wenig im Treiben unter. Richard NEUGEBAUER und Benedikt AL DAIMI ergänzten als Giuseppe bzw. Diener Floras/Dienstmann.

CHOR und EXTRACHOR (Leitung: Jan-Michael Krüger) waren doch allzu sehr mit grafischer Darstellung beschäftigt.

Manfred Hermann LEHNER driftete mit dem PHILHARMONISCHEN ORCHESTER stellenweise doch etwas in Richtung Umtata, was dem einen oder anderen Sänger half, der Dynamik aber nicht guttat, und den Abend gefühlt verlängerte.

Die Regie schenkt dem Zuschauer eine Menge. Zombies z.B. (und damit meiner Begleitung die Erkenntnis, daß es im Fall einer Zombie-Apokalypse wohl gut wäre, Gerard Quinn dabei zu haben, da er sie sich zumindest eine Zeitlang vom Leib halten konnte), Theater auf dem Theater, Nebelwände, Personendoppelung, Koffer und eine Dusche.

Die Idee der beiden Lebenswelten Violettas ist an sich interessant. Doch wo ist der Sinn dieser Teilung, wenn nicht nur Alfredo, sondern jeder, wirklich jeder, ständig in diese zweite Welt, die Welt des Schmutzes und der Krankheit eindringt?

Und weshalb setzt Giorgio Germont seine geliebte Tochter, die aus seiner Sicht ja „pura siccome un angelo“ ist, permanent dieser verstörenden, amoralischen Halbwelt aus? Man weiß es nicht, zumal am Ende, wenn er aufzeigen könnte, wohin dieser Lebenswandel letztendlich führt, sie und ihre Mutter nicht mehr zu sehen sind.

Weshalb ist es eigentlich ständig, selbst in den Party-Momenten, so dunkel auf der Bühne? Und womit hat es ausgerechnet Dottore Grenvil verdient, als so ekelhafte Figur (und in Unterwäsche) gezeigt zu werden? Fragen über Fragen, aber ich verlor die Lust auf die Produktion allzu rasch.

Das Publikum feierte Sänger, Chor und Orchester am Ende überfrenetisch, zwischen die lauten Buhs für das Regieteam mischten sich auch einige Bravos.

Eines noch zum Schluß. Laut Programmheft sollen hier u.a. die Phasen des Sterbens aufgezeigt werden. Für jemanden, der schon einmal den Tod eines Menschen begleitet hat, erschien das Ganze nur als kindischer Hohn. AHS