„Lohengrin“ – 5. September 2022 (Premiere)

Landauf, landab klagen die Theater über mangelnde Auslastung nach den Pandemie-Schließungen. Das Theater Lübeck setzt eine Neuinszenierung von Anthony PILAVACCHI auf den Spielplan, bekommt das Haus voll – und ein hörbar begeistertes Publikum dazu. Was sagt uns das?

Es sagt in erster Linie, daß es Theaterhunger immer noch gibt. Die Zuschauer, so scheint es, sind nur wählerischer geworden, was ihre Theatererlebnisse angeht. Für eine langweilige Produktion ohne interessante Ansätze und/oder gute Besetzung gehen wohl nur noch wenige aus dem Haus. Es geht um Unterhaltung, natürlich, doch auch um Musikalität, um Schlüssigkeit, darum, gefordert zu werden, ums Nachdenken, um das Entdecken immer wieder neuer Sachen. Pilavacchis Inszenierungen bieten das schon länger – und das Lübecker Publikum weiß das augenscheinlich zu schätzen.

Die Inszenierung, teils Endzeitdrama, teils Fantasyserie, ist weit weniger Elsa-zentriert als wir uns das vorab vorgestellt hatten. Ortrud ist die bühnenbeherrschende Figur, bis es, ob Telramunds Tod, zu einem Bruch kommt. Wer was in Sachen Gottfried getan hat, ist von Anfang klar. („Wie? Auch den Schwan?“ möchte man in einer Loge-Abwandlung hier fragen.) König Heinrich und seine Mannen kommen in eine vom Krieg verwahrloste Gesellschaft. Egal wie widerlich man diese verrohten Horden findet, man braucht sie für den Kampf gegen die Ungarn. Man braucht auch eine zentrale Lichtgestalt, die, als endlich erschienen, allerdings mehr wie ein fauler Budenzauber wirkte.

Das Faszinierende hierbei ist, daß alles, und sei es die aus dem Ruder gelaufene Hochzeitsfeier zu Beginn des dritten Aktes, auf die Musik paßt. Wir haben das in den letzten Jahren doch sehr vermisst, auch wenn der Regisseur selbst am Ende augenscheinlich nicht zufrieden schien.

Tatjana IVSCHINA schuf ein in seiner Wandelbarkeit und scheinbaren Einfachheit perfektes Bühnenbild, das auf die Drehbühne montiert zu 360 Grad bespielt wird und immer wieder einen anderen, passenden Raum für den aktuellen Moment bietet. Die kongeniale Lichtregie von Falk HAMPEL trug ihren Teil zur Wandelbarkeit und perfekten Illusion bei. Die Kostüme, ebenfalls aus der Hand von Tatjana Ivschina, zeichneten die Kontraste zwischen beiden Welten deutlich, ohne daß es unglaubwürdig oder aufgesetzt wirkte. Elsa, schwanengleich stets in weiß gekleidet, bildet einen deutlichen Gegenpol zur sie umgebenden Gesellschaft, während Ortrud sich bis zum Münster fast nahtlos in diese einfügt und erst dann in prachtvoller Robe erscheint.

Auf der Bühne wußten insbesondere drei Sänger zu überzeugen. Bea ROBEIN sang, spielte, war eine fulminante Ortrud. Sie trug den Abend über weite Strecken mit ihrer Präsenz und dem präzise gezeichneten Rollenporträt. Ihre Stimme besitzt einen angenehm warmen Klang und reiche satte Farben. Die ihr eigene Kraft setzte sie mit Vehemenz im Dienst der Rolle ein, klang aber selbst in den dramatischsten Ausbrüchen niemals schrill. Eine Ortrud wie man sie sich wünscht – nicht übertrieben böse, nur klug, zielstrebig und selbstbewußt.

Anton KEREMIDTCHIEV, nach 16 Jahren auch in diesem Lübecker „Lohengrin“ der Telramund, stand seiner Partnerin an sängerischem Glanz und darstellerischer Finesse in nichts nach. Der kraftvolle Klang seiner Stimme, die perfekte Phrasierung und die gute Diktion machten die Ebenbürtigkeit des Charakters glaubhaft. Schwäche? Nein, nur allzu leicht verführen läßt sich dieser Telramund von Ortruds Worten. Das Zusammenspiel beider Figuren war stets auf den Punkt. Streckenweise zeigten sich wie z.B. zu Beginn des zweiten Aktes Anklänge an eine Macbeth-artige Dynamik.

Ganz frisch als Ensemblemitglied am Lübecker Theater hinterließ Jacob SCHARFMAN einen ausgesprochen guten ersten Eindruck. Mit vielen kleinen Gesten war sein Heerrufer die Inkarnation jenes Snobismus des königlichen Heerbanns gegenüber den Brabantern. Der junge Bariton bringt eine schönklingende, volltönende Stimme mit, die gepaart mit seiner natürlich wirkenden Präsenz neugierig auf seine weiteren Aufgaben am Haus macht.

Die Besetzung des Titelhelden wurde – zumindest online – recht kurzfristig und kommentarlos geändert. So blieb offen, wann Peter WEDD die Möglichkeit bekam, sich dieser Idee von Lohengrin zu nähern. Er war vokal sicherlich nicht der strahlendste Held. Mehr als antiquiertem Überhelden-Pathos bedurfte es in dieser Produktion aber auch eines Politikers mit Blenderqualitäten, dessen innere Brüche sich erst im Brautgemach wirklich manifestierten. Es dürfte interessant sein, den Tenor in einer der Folgeaufführungen zu hören und zu sehen.

Auch bei Elsa las man auf dem Besetzungszettel einen anderen Namen als noch in der Spielzeitankündigung. Anna GABLER brachte den Kontrast der Figur zur sie umgebenden brabantischen Gesellschaft gut zum Tragen. Die dafür gewählten Kostüme halfen sicherlich. Stimmlich streckenweise recht verhalten, sich herantastend. Etwas weniger auf Sicherheit spielen, mehr wagen, mehr von der Courage, die in der Szene vor dem Münster und teils auch im Brautgemach aufblitzte, würde man sich hier wünschen.

Gustavo MORDENTE EDA, Noah SCHAUL, Laurence KALAIDJIAN, Christoph SCHWEIZER als brabantische Edle lieferten ihre kurzen Auftritte stimmlich homogen auf den Punkt., Auch die vier Edelknaben bzw. vier Edelpunks Valentina RIEKS, Nataliya BOGDANOVA, Frederike SCHULTEN und Iris MEYER machten klangschön als ständig präsente Plagegeister die Bühne unsicher. Johannes Klimpel, Mats Ole KUHNT, Hendrik Schwertfeger schritt als Gottfried immer wieder gravitätisch über die Bühne und machte seine Sache dabei sehr gut. Auch ein bißchen Grusel war dabei. König Heinrich war mit Rúni BRATTABERG besetzt.

CHOR und EXTRACHOR (Leitung: Jan-Michael KRÜGER) boten eine beachtliche Leistung. Sie bildeten den Rahmen für den Spiel mit den Kontrasten zwischen beiden Welten nicht nur anhand der Kostüme, sondern auch in der unterschiedlichen Agilität. Auch gesanglich war es über weite Strecken ganz großes Kino.

Das Dirigat von Stefan VLADAR ließ sich recht schleppend an, und auch wenn das PHILHARMONISCHE ORCHESTER sich von Akt zu Akt steigerte, klang es doch noch längst nicht so wie es gerade auch in Sachen Wagner zu klingen vermag bzw. vermochte. Zu unpräzise und zu laut geriet so manches.

Die Begeisterung, die sich nach einem kurzen kollektiven Innehalten ob der Auflösung am Ende Bahn brach, war ebenso einhellig wie bereits zu den Pausen, und sie war in weiten Teilen berechtigt.

Zum Schluß noch eine persönliche Anmerkung. Wir leben in turbulenten Zeiten. Zeiten, in denen gerade auch Künstlern unglaubliche Flexibilität und Kompromisse abverlangt werden. Da mag manches nicht so geraten wie man es sich im Streben, die perfekte Arbeit abzuliefern, wünscht. Den Zuschauern hat es aber ein wundervolles Erlebnis geschenkt. Und Bilder. Bilder und Momente, die wie beim „Ring“ lange nachhallen werden. Ist das Sich-Ärgern es dann tatsächlich wert? AHS