Von dem einen oder anderen Glückstreffer einmal abgesehen, plätschert es inszenatorisch in Hamburg seit Längerem ohne großen Glanz so dahin. Die Talsohlen überwiegen die Gipfelpunkte, und ohne das aktuelle bzw. ehemalige Hausensemble wäre man in den letzten Jahren zumeist eher auf verlorenem Posten gewesen. So auch diesmal.
Mit Alexander TSYMBALYUK als Boris Godunow hatte man dann aber auch einen Besetzungsvolltreffer gelandet. Gesanglich ohne jeden Tadel und jede Sekunde ausgefeilt auf Linie dargeboten, muß der Baß keinen Vergleich scheuen. Sein Zar besitzt immer noch jenes Charisma vergangenen Glanzes und zeigt im Wahn macbethhafte Züge. Der weiche, zärtliche Umgang der Figur mit Tochter und Erben spiegelte sich in seiner Charakterisierung ebenso wider wie Hohn, Stolz, Zweifel und Verzweiflung. Wenn diese Inszenierung eine neue Facette beiträgt, dann die Erkenntnis, daß der Sänger auch ein exzellenter Billardspieler ist.
Nicht weniger grandios sang und spielte Dovlet NURGELDIYEV seinen Gegenspieler Grigorij Otrepjew. Nett war gestern, und so bewies der Tenor, daß er auch dramatischere und charaktervolle Partien nicht zu scheuen braucht. Grigorij wie auch Stewa später in der Spielzeit geben ihm die Möglichkeit, seinem Portfolio eine weitere vielversprechende Facette hinzuzufügen. Seiner Stimme und ihrem stets so schönen Klang tut diese neue Ausrichtung indes keinen Abbruch. Ihr Farbenreichtum wurde nur um ein dunkleres Spektrum erweitert.
Auch Florian PANZIERI begeisterte mit einen mehr als beachtenswerten Auftritt. Sein Gottesnarr ist nicht nur in stimmlicher wie darstellerischer Hinsicht präsent, sondern wird zum Träger seiner kurzen Szenen und zur Triebfeder der weiteren Handlung.
Voller beeindruckender und natürlich wirkender Lebendigkeit brachte Ryan SPEEDO GREEN den Mönch Warlaam auf die Bühne. Mit seiner Stimmgewalt und Bühnenpräsenz hätte ihn sich eigentlich als Pimen gewünscht, wirkte der Interpret dieser Rolle Vitalij KOWALJOW an diesem Abend müde und sang mit wenig Durchschlagskraft. Etwas mehr von der überbordenden Persönlichkeit des Kollegen hätte da wahrscheinlich geholfen.
Auch Matthias KLINK verpasste die Chance zur tiefergehenden Profilierung seiner Partie. Um Schuiskij als Intriganten per excellence und als Gegenpol zum Zaren überzeugend auf die Bühne zu bringen und gesanglich zu punkten, wirkte mir die Figur zu eindimensional und flach sowie gesanglich zu wenig akzentuiert.
Aufgrund der gewählten Fassung war auch Kady EVANYSHYN um das Finale der Charakterisierung, den Blick in die düstere Zukunft Fjodors gebracht, doch sie machte viel aus der Rolle und behauptete sich in jeder ihrer Szenen. Daß Xenia als Figur unglaublich anstrengend wirkt, kann man Olivia BOEN nicht vorwerfen. Sie bemühte sich wahrlich, der Zarentochter Profil zu verleihen.
Alexey BOGDANCHIKOV gestaltete Schtschelkalow mit viel Ausstrahlung und Präsenz. Seine Stimme besitzt mittlerweile eine markante Individualität und hat über die letzten Monate noch mehr an Farbenreichtum gewonnen.
Mit dem entlaufenen Mönch Missail sang Jürgen SACHER wieder eine Rolle, die seiner Spielfreude enorm entgegenkam. Als Xenias Amme war Renate SPINGLER beeindruckend omnipräsent. Marta ŚWIDERSKA ließ als Wirtin aufhorchen. Hubert KOWALCZYK blieb als übertrieben plakativ angelegter Polizeioffizier hinter seinen sonst so guten Leistungen zurück, während Julian ARSENAULT (Mitjucha) und Mateusz ŁUGOWSKI (Leibbojar) unbeschränkt begeisterten.
CHOR und EXTRACHOR (Leitung: Eberhard FRIEDRICH) hatten es szenisch nicht leicht, konnten aber auch als Klangkörper im Gesamten nicht wirklich überzeugen. Die ALSTERSPATZEN ergänzten wesentlich schönstimmiger.
Nein, es ist immer noch nicht 2025, und so war GMD Kent NAGANO für die musikalische Leitung des Abends zuständig. Was da aus dem Graben kam, hätte auch eine seiner Wagner-Interpretationen sein können, so ohne jedes Gespür für die Großartigkeit und Individualität der Musik, so lieblos, erschien es mir. Es würde vielleicht leichter zu verschmerzen sein, hätte es nicht die großartige musikalische Umsetzung durch Riccardo Chailly im vergangenen Jahr an der Scala gegeben. Das ORCHESTER machte immerhin fast nichts falsch. Von den erstklassigen Abenden der letzten Spielzeit wie z.B. dem „Trittico“ war man allerdings doch entfernt.
Regisseur Frank CASTORF verzichtete dankenswerterweise auf eine auf aktuell getrimmte Sicht des Geschehens. Seine Inszenierung bietet durchaus interessante Ansätze. Es geht um alte und neue Götter, um Evolution des Glaubens und darum, wie jede neue Herrschaft neue Götzen mit sich bringt. Die eine oder andere Sache läßt die Zuschauer von östlich der Elbe ob ihrer Vertrautheit schmunzeln. Was man sich allerdings wünschen würde, wäre eine zusammenhängende und stringent erzählte Geschichte – vorzugsweise die von Boris Godunow, in welcher Zeitlinie auch immer, doch das bleibt bei den vielen Versatzstücken leider auf der Strecke.
Die Produktion ist sicherlich besser als die zuletzt in Lübeck Gezeigte, doch in ihrer Kleinteiligkeit und Unbeweglichkeit fehlt für einen guten Opernabend viel an Dynamik. Und so beginnt der Abend mit großer Chorszene – und es passiert nichts. Der Chor steht, akustisch ausgesprochen unglücklich platziert, an der Rampe und singt. Auch der erste Auftritt Boris‘ verpufft lieblos in Szene gesetzt auf einem Balkon, was bei der verschenkten Chance, dies auf die Musik zu inszenieren, wirklich schmerzt. Im Wirtshaus machte es die Dunkelheit auf der Bühne schwer, dem Geschehen zu folgen, und in Boris‘ Raum störte die Lampe über dem Billardtisch die Sicht auf die Protagonisten massiv, so es nicht ohnehin eine der Videoleinwände tut.
Man spielt in Hamburg die Urfassung, d.h. u.a. ohne Polen-Akt und mit dem Tod Boris‘ endend. Daß der Regisseur wohl, wie in dieser Besetzung sicherlich auch große Teile des Publikums, den Polen-Akt gern auf der Bühne gehabt hätte, läßt sich an zahlreichen Videoeinspielungen (inkl. Untertiteln) dieses Teils der Oper erkennen. Leider stören die Videos, für die mit Andreas DEINERT, Severin RENKE, Jens CRULL, Maryvonne RIEDELSHEIMER gleich vier Personen verantwortlich zeichnen, das Bühnengeschehen erheblich. Die übergroßen Leinwände sind zumindest für den Rang ausgesprochen ungünstig platziert, die Videoqualität ist – ob für Einspielungen oder für Livebilder – eher mäßig.
Das Bühnenbild von Aleksandar DENIĆ bedient sich in weiten Teilen der Hamburger Drehbühne. Neben den oben bereits genannten sichtbehindernden Mankos gibt es auch den Nachteil, daß man aus dem Rang einen freien Blick auf die Hinterbühne und die dort ausgeführten Umbauarbeiten hat, was so manchen Einfall schlicht vorwegnimmt. Pimens Hütte ist ein akustischer Alptraum, so daß der Sänger zu Beginn der betreffenden Szene fast gar nicht zu hören. Ansonsten setzt man auf plakatives Design und ein schwer bewegliches, weil klemmendes Tor.
Die Kostüme von Adriana BRAGA PERETZKI fügten sich in diese Umgebung ein, ohne in weiten Strecken die zeitspezifische Entwicklung der Inszenierung mitzutragen. Weshalb die Damen des Chores ihren ersten Auftritt nun unbedingt in Glitzerkleidchen und mit folkloristischem Kopfschmuck absolvieren mußten, blieb ein Rätsel. (Und sollte man sich wirklich die Frage stellen, ob die blauen Haare des Gottesnarren wohl im Dunkeln leuchten?)
Es ist, bereits gesagt, wieder einmal eine Produktion, die von den Sängern getragen wird und die aus diesem Grund auch, und nur aus diesem, wirklich empfehlenswert ist. Ich für meinen Teil werde mir allerdings den Spaß machen, die Vorstellung am 7. Oktober zu besuchen. AHS