Warum?

Die Hamburgische Staatsoper hat angeregt, man könne Fragen für die Diskussion über das neue Vorverkaufssystem am 4. April 2018, 10 Uhr, einreichen. Da es dem arbeitenden Teil der Zuschauer, zu dem auch ich gehöre, nicht möglich ist, an einer mit einem Vorlauf von einer Woche angesetzten Veranstaltung an einem Werktag um 10 Uhr teilzunehmen, stelle ich meine Frage in dieser Weise. Und sie lautet tatsächlich schlicht und ergreifend „Warum?“

Hamburg hatte bis zu dieser Spielzeit ein Vorverkaufssystem, um welches das Publikum in anderen Städten uns beneidet hat. Es war einfach organisiert: Eine Hälfte der Plätze, die auf der linken Seite des Hauses, ging zu Beginn der Saison in den Vorverkauf, die andere Hälfte, die auf der rechten Seite, vier Wochen vor der Vorstellung. Ideal, sollte man meinen, denn es sorgt dafür, daß alle Besuchergruppen gute Chancen haben, Karten in jeder Preiskategorie für diejenigen Vorstellungen zu bekommen, die sie interessieren. Der meistgehörter Satz von Opernfans aus anderen Städten hierzu in meinem Umfeld war: „Das sollten sie bei uns auch einführen.“

Einzig, die aktuelle Leitung der Staatsoper Hamburg sieht es anders. Sie schafft den Vorverkauf vier Wochen vor der Vorstellung ohne Not ab und bringt alle Karten für die Saison 2018/19 bereits im Juni 2018 in den Vorverkauf.

Was möchte sie damit bezwecken? Alle Zuschauer sollen dem Haus ein zinsloses Darlehen von einer Laufzeit bis zu dreizehn Monaten geben? Ich erspare es mir, einen naheliegenden Witz über die Kreditwürdigkeit der Staatsoper Hamburg zu machen, der wäre zu billig.

Offizielle Mitteilung der Staatsoper Hamburg auf entsprechende Anfrage lautet: „Uns ist klar, daß der kurzfristige Vorverkauf für viele Besucherinnen und Besucher, die die Gepflogenheiten bei uns gut kennen, eine liebgewonnene Tradition ist. Für andere, die sich eben nicht so gut auskennen, senden wir durch das Zurückhalten von Kartenkontingenten falsche Signale über unseren Internetverkauf. Das wollen wir zur neuen Spielzeit ändern.“

Warum schreibt man nicht einfach als ständigen Text auf die Seite, auf der man die Karten auswählen kann, daß vier Wochen vor der Vorstellung noch einmal ein Kontingent in den Vorverkauf geht? Das sollte technisch nicht wirklich eine Herausforderung darstellen. Wenn doch, wäre dies zutiefst traurig. Auf diesen Vorschlag aus den Zuschauerkreisen gab es bisher keinerlei Antwort der Leitung der Oper.

Und das Statement der Oper geht leider an der Realität vorbei. Es handelt sich bei dem vierwöchigen Verkauf mitnichten um eine „liebgewonnene Tradition“; eine liebgewonnene Tradition war das gemeinsame Anstehen in Vorinternetzeiten zwei bzw. vier Wochen vor der Vorstellung, wo alle Karten mit Ausnahme der Abo-Karten in den Verkauf gingen.

Bei dem bisherigen System handelt sich um eine geradezu demokratische Einrichtung, da sie allen Personen faire Chancen gibt, an die gewünschten Karten zu kommen. Ein Verkauf für die gesamte Saison aller Karten schließt Personen vom Besuch begehrterer Vorstellungen aus oder erschwert ihnen zumindest den Besuch. Es fallen mir gleich drei Gruppen spontan ein:

  • Menschen mit beschränkten finanziellen Mitteln; oder wie stellt die Leitung der Staatsoper es sich vor, daß dieser Personenkreis vor Beginn der Saison mehrere hundert Euro auf einmal aufbringen kann? Der frühere, inzwischen legendäre Intendant Rolf Liebermann hat immer betont, daß die günstigste Karte dem Preis einer Kinokarte entsprechen sollte. Eine in prekäreren Verhältnissen lebende Person, (ja, auch solche Opernfans gibt es, oder wollen wir Oper wieder zum Vergnügen der Wohlhabenden machen?) kann sich vielleicht einmal im Monat eine Karte zu diesem Preis leisten, nicht jedoch zwölf auf einmal. Wenn aber alle günstigen Karten bereits zu Saisonbeginn verkauft wurden, bleibt dieser Personenkreis außen vor. Schwerlich in Liebermanns Sinne.
  • Personen, die einem Beruf nachgehen, in dem sie im Juni 2018 nicht wissen, ob sie am 20. März 2019 überhaupt in der Stadt sein werden, um eine Vorstellung zu besuchen. Wir haben nicht alle Berufe, in denen wir montags bis freitags morgens um 9 Uhr am Schreibtisch sitzen, das Büro den ganzen Tag nicht verlassen und um 17 Uhr den Stift hinlegen. Diese Personen werden wahrscheinlich Karten für die Vorstellungen, die sie dringend sehen wollen, zu Saisonbeginn erwerben, selbst wenn sie nicht wissen, ob sie die Karte nutzen werden, womit sie anderen wiederum die Karten wegnehmen, da bei einem Nichtbesuch der Platz leer bleibt, die Karte wird schließlich nicht zurückgegeben (aber warum sollte die Oper das kümmern, die Karte ist ja verkauft). Vorstellungen, für die man sich bisher kurzfristig Karten besorgt hat, wenn der Terminkalender es zuließ, weil sie nicht unbedingt sein mußten, aber interessant klangen, fallen so höchstwahrscheinlich hinten runter, da man sowieso keine erschwinglichen oder guten Karten mehr bekommen wird. Ist mir eine Vorstellung, die mich vage interessiert, € 100,– wert oder drei Stunden Verharren auf einem sichtbehinderten Platz? Eher nicht, man wird dann wohl verzichten.
  • ältere Menschen und Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, die eben nicht sagen können, ob sie in sechs Monaten (noch) fit genug sein werden, ins Theater zu gehen.Ob man dauerhaft ein Theater füllen kann mit den Personen, die dann noch übrig bleiben, also gutsituierten Menschen mit geregelten Arbeitszeiten und vitalen Rentnern? Man sollte überlegen, ob sich die Oper hier nicht ein klassischen Eigentor schießt, denn ich kann mir gut vorstellen, daß der eine oder andere potentielle Besucher, nachdem er dreimal keine Karten, in der gewünschten Kategorie während der Saison bekommen hat, einfach aufgibt. Das kulturelle Angebot in Hamburg ist schließlich vielfältig, für den Gelegenheitsbesucher muß es nicht zwingend Oper sein.

Die Sommerbespielung der Hamburgischen Staatsoper ist in diesem Jahr übrigens das Musical „Titanic“. Das kann man, gerade in Anbetracht einer größeren Anzahl von Fehlentscheidungen und musikalischen Fragwürdigkeiten in dieser Saison als sehr passend ansehen. Hoffen wir, daß die neue Vorverkaufsregelung nicht die Rolle des Eisbergs übernimmt. MK