Dem Internet sei Dank verhelfen landauf, landab viele Opernhäuser dem Publikum – egal, wo es aktuell vor dem Rechner sitzt – mittels Streaming verschiedenster Produktionen neueren wie älteren Datums zur nötigen Dosis Musik. Bei den großen Häusern sind eher die üblichen Verdächtigen zu hören, aber manchmal man bekommt einen wirklich guten Tip.
In diesem Fall war es der redaktionsinterne Hinweis, daß auf der Website der Finnischen Nationaloper eine „Tosca“ mit Ausrine STUNDYTE in der Titelpartie zu sehen sei. *yeah* Die Produktion bietet allerdings nicht nur den litauischen Ausnahmesopran, sondern eine bis in die kleinste Rolle perfekte Besetzung und eine Produktion, die zu fesseln weiß.
Regisseur Christoph LOY erzählt Puccinis Drama auf eine sehr moderne, beinahe cineastische Weise, aber im klassischen Gewand. Jede Figur, bis hin zum letzten Statisten hat eine Funktion, eine Geschichte. Eine Geschichte, die man an den Personen, ihrer Mimik und Gestik ablesen kann. Selbst die aus Sardous Theaterstück übernommene Figur Gennarino, gespielt vom mehr als präsenten Alvari STENBÄCK, wurde nicht einfach nur hinzugefügt, sondern macht durchaus Sinn.
Alle Beziehungen werden tiefenpsychologisch ergründet, und alles ist emotional so packend, so überbordend, daß man anschließend eine Runde um den Block gehen muß, um wieder zu Atem zu kommen. Trotzdem bleibt die eigentliche Geschichte in allen Einzelheiten erhalten und wird mit unglaublich vielen Kleinigkeiten sorgsam erzählt.
Bühnenbild und Kostüme (Christian SCHMIDT) stützen den klassischen Teil der Erzählweise. Hier findet Puccinis Oper, wie man wie man sie kennt, den stärksten Wiederklang. Man sieht die Kirche, eine klassische Szenerie für Scarpias Räumlichkeiten, eine bedrückend enge Zelle und am Ende sogar den Blick von der Engelsburg auf Rom. Hin und wieder schmuggelt sich ein Theatervorhang wie ein ironischer Kommentar in den Hintergrund, doch es funktioniert. Beide Erzählwelten fügen sich harmonisch zusammen. Ein Lehrstück, wie man klassische Oper modernisiert, ohne sie zu zerstören.
Natürlich braucht eine solche Produktion Sänger, die dies tragen können. In Helsinki hat man das Ensemble dafür gefunden. Daß Ausrine Stundyte in der Lage ist, psychisch komplexe Rollenporträts glaubhaft und fesselnd auf die Bühne zu bringen, ohne daß ihre musikalische Interpretation der Partie leidet, weiß man seit dem Lübecker „Ring“. Ihre Tosca ist Diva mit allen Facetten. Girrend umgarnt sie Cavaradossi, nachdem sie ihre Eifersucht auf jene blonde Schönheit mühsam wieder in den Griff bekommen hat. Leidenschaftlich bricht sich diese Eifersucht zum Ende des ersten Aktes wieder Bahn, während die Figur hörbar Schritt für Schritt in den Wahnsinn abgleitet. Die Ermordung Scarpias ist konsequent der Höhepunkt dieser Entwicklung, der endgültige Abstieg in eine Trugwelt im dritten Akt nur folgerichtig. Dies auch gesanglich so präsent zu machen, daß die Entwicklung der Figur und der Handlung in jedem kleinen Schritt Sinn machen, ist die ganz große Leistung der Sängerin.
Tuomas PURSIOs Scarpia zeigt anfangs überraschend wenig Präsenz, doch nach und nach erkennt man, daß Sinn hinter dieser Zurückhaltung steckt. Die dramatische Steigerung und der bis zum Ende des zweiten Aktes entstehende Spannungsbogen sind immens. Der Bariton ist hier nicht der Meister der großen Bögen oder der stimmlichen Grandezza italienischen Stils, doch das wäre in dieser Produktion auch fehl am Platz. Scarpia ist wie Tosca getrieben von Wahn und Lust. DAS bekommt man zu hören und zu sehen, und man fragt sich, in wessen Geschichte man hier hineingezogen wird. Toscas? Scarpias? Ihrer beider Drama? Was ist real, was Wahn einer oder beider Figuren? Und manchmal möchte man die Übertragung für nur fünf Minuten anhalten, um Luft zu holen, doch gleichzeitig will man unbedingt wissen, wie es weitergeht.
Es gibt Tenöre, die scheinen für Cavaradossi geboren. Nicht allein stimmlich, sondern auch von ihrer Ausstrahlung, Selbstverständlichkeit und Attitüde her. Andrea CARÈ ist ein solcher Tenor. Cavaradossi gehört zum klassischen Teil der Erzählung, und gerade die so klassisch klingende, warme Stimme des italienischen Sängers ist ein perfektes Vehikel dafür. Manches ist geschickt phrasiert, doch insgesamt hört und sieht man hier einen der aktuell wohl besten Interpreten der Partie.
Neben den drei Hauptpartien beeindruckt Matias HAAKANA wohl am meisten. Erster Akt, Scarpias Auftritt. Es erscheint ein hagerer, schwarz gekleideter junger Mann, der den Blick auf sich zieht – und man ist völlig irritiert, wenn der Mann, der neben ihm steht, plötzlich zu singen beginnt. Mit seiner Bühnenpräsenz wertet der junge Tenor die Partie weg vom reinen Stichwortgeber hin zum Polizeichef in Ausbildung mit spielerischer Leichtigkeit auf, und nutzt den ihm von Regie dafür gegebenen Raum gekonnt.
Mit wenig mehr als Anzugjacke und Hose ausgestattet, weiß Tapani PLATHAN als Angelotti stimmlich einen guten Eindruck zu vermitteln. Heikki AALTO läßt seinem Sagrestano wenig Raum für Sympathie, während Nicholas SÖDERLUND der Tradition guter Sciarrone-Interpreten eine neue gesanglich und darstellerisch sehr präsente Darbietung hinzufügt.
Kris-Andrea HAAV (Mädchen) singt die Zeilen des Hirten. Ihre Erscheinung in Cavaradossis Zelle ist wohl Teil der immer wieder hervorlugenden Wahnwelt, der Erscheinungen der Vergangenheit, des Todes – und definitiv einer der unheimlichsten Momente der Aufführung.
Am Ende scheint es allen klar. Napoleon hat gesiegt. Jener Maler wird wohl das letzte Opfer des Polizeichefs sein. Wenn man die Hinrichtung nur ein wenig verzögern könnte… Erstaunlicherweise scheint man genau dies im Gesicht von Henri UUSITALOs Schließer lesen zu können. Zudem er singt unglaublich schönstimmig und ist trotz der kleinen Partie höchst präsent.
CHOR und KINDERCHOR klingen nicht nur ausgesprochen homogen, ihre Mitglieder sind auch in der Lage, die Aufgaben des Regiekonzepts problemlos so umzusetzen, daß nichts gestellt, sondern alles natürlich und im Fluß wirkt.
Dirigent Patrick FOURNILLIER leitet die Aufführung so souverän wie unaufgeregt und stützt damit die Produktion mit ihren vielen Facetten. Das ORCHESTER DER FINNISCHEN NATIONALOPER hat einen brillanten, reinen Klang, der allein schon ein Live-Erlebnis wert wäre.
Auf nach Helsinki möchte man also sagen, aber das geht aktuell eben nicht. Leider. Der „Tosca“-Stream ist auf der Website der Finnischen Nationaloper (https://oopperabaletti.fi/en/) aber immerhin noch bis 2. Oktober 2020 verfügbar. AHS