„Les Miserables“ – 13. Mai 2010

Die „International Tour“ anläßlich des 25. Jahrestages von Boubils und Schönbergs Musical „Les Miserables“ machte auch Station in Edinburgh. So ergab sich eine gute Gelegenheit für ein weiteres Live-Erlebnis.

Die Inszenierung (Laurence CONNOR + James POWELL) unterscheidet sich stark von der im Londoner West End gespielten. Sie gibt dem Stück einige neue Impulse, doch dazu später mehr.

John OWEN-JONES ist einer der meist gepriesenen Darsteller Jean Valjeans, und so waren die Erwartungen hoch. Der willensstarke, teilweise recht rüde (Ex-) Sträfling am Anfang gelang ihm in der Charakterisierung dann auch gleich so gut, daß zu befürchten stand, die Verwandlung von diesem zum respektablen Bürgermeister würde mißlingen. Doch mitnichten, der Sträfling auf Bewährung verschwand von der Bühne, und kurze Zeit später betrat John Owen-Jones die Bühne als perfekte Inkarnation Madeleines. Jeder Lebensabschnitt Valjeans fand hier die entsprechende Wiedergabe in Haltung, Darstellung und Klang der Stimme. Ein kleines bißchen vermißte ich einzig Valjeans Heiligkeit.

Neben dieser gelungenen schauspielerischen Darbietung hörte man zudem eine stimmlich ausgereifte Interpretation. Ich denke nicht, daß ich „Bring him home“ bisher derart perfekt gehört habe bzw. es noch einmal von jemand anderem so hören werde. Diese Stimme ist mit einer erstaunlichen Bandbreite gesegnet, klingt niemals scharf oder unsauber. Hinzu kommt eine unbändige Kraft, die in den richtigen Momenten das Mikrofon unnötig macht, und die Fans des Sängers in Ekstase versetzt. Trotz dieser enormen Stimmkraft paßt die Stimme gerade auch zu den leisen, gefühlvollen Augenblicken der Partie.

Doch Perfektion hin oder her. Mein Herz gehört, ob im Buch oder auf der Bühne, dann doch stets Javert. Earl CARPENTERs Polizist unterscheidet sich von dem anderer durch eine gewisse Form von Bodenständigkeit und Phlegma. In einigen, besonders emotionalen Momenten hört man Javerts Herkunft heraus, was Absicht oder nicht, einen sehr interessanten Blick auf den Hintergrund der Figur gibt. Es fehlt jede Form von unnötiger Eleganz, obwohl dieser gesetzestreue Ordnungshüter durchaus charmant wirken konnte, wenn es seiner Sache diente. Grandios ist die Mimik und Gestik Carpenters, die das Gesehen häufig deutlicher kommentiert als sein Text es vermag, und Javert ob dieser zutiefst menschlichen Seite Sympathiepunkte bringt.

Earl Carpenters Stimme ist sicher nicht die schönste der Welt, bietet aber mit ihrem grollenden [Ich liebe das, was er mit dem „R“ macht. ;-)], beinahe rauchigen Klang einen guten Gegenpart zu der Owen-Johns. Sie klingt zudem ausgesprochen charaktervoll und besitzt die perfekte Bandbreite an Klangfarben, um sowohl „Stars“ als auch Javerts Selbstmord zu musikalischen Höhepunkten des Abends zu machen. Beeindruckend an diesem Abend war, daß nicht allein die beiden Kontrahenten so gut besetzt waren, sondern die gesamte Besetzung eine hochkarätige Leistung auf die Bühne brachte.

Madalena ALBERTO gab Fantines Entwicklung mit viel Realismus und Gespür dafür, was einer alleinstehenden Mutter in jener Zeit widerfahren sein mußte, wieder. Vom Verlust der Arbeit über den der Unschuld wie des Stolzes bis hin zur Konfrontation mit Bamatabois gab sie Stück für Stück etwas von der ursprünglichen Persönlichkeit der Figur zugunsten eines emotionalen Wracks auf. Es wurde nachvollziehbar, weshalb Fantine sich schließlich erschöpft dem Schicksal, sich zu prostituieren, hingibt. Erst kurz vor Fantines Tod kehrte ein Teil des anfänglich gezeigten Charakters zurück. „I dreamed a dream“ gab neben den üblichen romantischen Tendenzen in der von Madeleine Alberto gesungenen Version auch viel von der (unterdrückten) Wut auf den Mann, der Fantine sitzengelassen hatte, preis. Der im Sprechgesang vorgetragene Beginn dieses Stücks war ein interessantes Gestaltungsmerkmal.

Katie HALL hatte im vergangenen September in London einen höchst unerfreulichen Eindruck hinterlassen. Diesmal jedoch besaß ihre Cosette so ziemlich alles, was man sich wünschte – und vor allem eine Seele. Da war dieses heranwachsende Mädchen mit teenagerhafter Emotionalität, das Marius mit Leichtigkeit den Kopf verdreht und Valjean mit ihren bohrenden Fragen in Bedrängnis bringt. Diese Wandlung in der Darstellung kam ihr auch stimmlich zugute. Ihre Stimme hat viel an Ausdruck und Wärme gewonnen. Durchaus hörenswert.

Soviel Selbstbewußtsein und Charakter harmonierten dann auch gut mit dem Schaf von einem Marius wie ihn Gareth GATES spielte. Komplett rollenkonform stolperte dieser Möchtegern Revolutionär über die Bühne. Wie das mit dem Studium hier wohl geklappt haben mochte, war eine der Frage, die man sich stellte. Vielleicht hätte er es mit Musik, statt Jura versuchen sollen, denn er nennt eine hübsche Stimme sein eigen.

Eponine klang in der Interpretation von Rose O’REILLY zum Teil sehr rotzig. Sicherlich dies rollenkonform, aber ein wenig vermißte man doch die schwärmerischen, gefühlsbetonten Augenblicke der Partie. Ihre vielseitig klingende Stimme bietet Ausdruck und Raum für beides – das zornige Mädchen und den verliebten Backfisch, der dann doch bei „A little fall of rain“ zum Vorschein kam.

Durchweg perfekt waren die Amis besetzt. Mit Christoph JACOBSEN gab es einen Enjolras, der kein Stutzer, sondern tatsächlich Kopf der Studentenrevolte ist. Schwer ist das nicht, denn er hat es nicht nötig, übermäßig mit hohen Tönen zu protzen (die selbstverständlich tadellos klangen). Seine Stimme saß bei jedem Ton einfach perfekt. David COVEY charakterisierte Grantaire nicht allein als trinkfreudigen Mitläufer, der Enjolras überall, selbst in den Tod folgt, sondern gab der Figur einen höchst emotionalen Charakter, so als verstecke er seine Empfindsamkeit hinter dem übermäßigen Alkoholgenuß. Sein heftiger Ausbruch nach Gavroches Tod war unglaublich beklemmend.

David LAWRENCE machte nicht nur als Lesgles, sondern mehr noch als Bishop of Digne eine ausgesprochen gute Figur. Seine Stimme klingt hörbar nach Oper, ein sauber geführter Bariton mit wirklich schönem Klang.

Hatte man sich von der Sprachbehandlung generell nicht des Eindrucks erwehren können, daß Frankreich seit neustem eher eine Gegend im nördlichen England ist, gab Adam LINSTEAD als Thenardier diesem Gedanken neue Nahrung. Um die Schicht zu charakterisieren, in der der Wirt sich bewegt, war das natürlich perfekt. Hinzu kamen eine einwandfreie vokale und darstellerische Interpretation ohne die manchmal üblichen Übertreibungen in die extrem gefährliche oder überkomische Richtung. Das Gefährliche an diesem Thenardier war, daß man ihn eigentlich mochte. Lynne WILMOT ergänzte hier ebenso gut. Sie spielte Madame Thenardier dem Charakter entsprechend ordinär, laut und gierig. Vokal bringt sie den passenden Gossenjargon gut mit ihrer eigentlich angenehm timbrierten Stimme in Einklang.

Carl MULLANEY sang einen rollenkonform widerlichen Bamatabois und Jonathan ALDEN einen unangenehm rüden Factory Foreman. In Thenardiers Gang zeigte u.a. Luke KEMPNER einen Montparnasse wie man ihn sich vorstellt – mehr ein Geck denn ein Gangster. Generell sang und spielte das Ensemble gerade auch in den kleinen und Kleinstrollen auf hohem Niveau.

Durchweg hervorragend waren die Kinder (leider konnte man ihre Namen nicht in Erfahrung bringen). Die kleine Cosette war nicht nur niedlich, sondern ließ auch eine so glockenhelle wie sichere Stimme hören. Der Junge, der Gavroche sang, besaß neben sehr guten vokalen Fähigkeiten bereits ein gutes Gespür für eine gehörige Portion Frechheit und Göre, ohne zu übertreiben. Sein Gassenjargon war so perfekt, daß ich trotz recht guter Textkenntnis, teilweise keine Ahnung hatte, was er eigentlich gerade erzählte.

Die Inszenierung ist insgesamt düsterer, in vielen Punkten direkter, realistischer und durchaus auch brutaler. Ein neues Gestaltungselement sind Projektionen auf den Bühnenhintergrund, die als Schattenspiele den jeweiligen Ort der Handlung oder entsprechend passende Elemente davon wiedergeben.

Die Geschichte beginnt auf der Galeere, was vielleicht nicht unbedingt Sinn macht, aber ein gutes Anfangsbild gibt. Der erste Freier, dem Fantine ihre Dienste anbietet, ist der Factory Foreman. Bamatabois führt sich ausgesprochen zügellos auf, und ganz generell wurde viel Wert auf die weitere Ausarbeitung der zwischenmenschlichen Beziehungen gelegt. Daß Javert tatsächlich eine Eisenkette zur Verhaftung mitbringt, mag zu diskutieren sein, zumal wenn Valjean ihn im Laufe ihres Kampfes damit würgt, ganz abwegig ist es nicht.

Es wäre wünschenswert, wenn es von dieser Produktion vielleicht dann doch irgendwann eine DVD geben würde, und sie auf keinen Fall nach der Tour in der Versenkung verschwindet. AHS