Wahnvorstellungen in Düsseldorf, Volume 1
Es gibt wohl im gängigen Opernrepertoire kein Stück, welches so genau festgelegt ist mit Orten, Datum und sogar Uhrzeiten wie Puccinis „Tosca“. Das stellt einen Regisseur vor erhebliche Herausforderungen, wenn er etwas anders machen möchte.
Dietrich W. HILSDORFs Inszenierung fängt sehr konventionell an, der erste Akt findet statt, wie er im Libretto steht mit dem hübschen Detail, daß Angelotti sich tatsächlich in der Kapelle, die offenbar keinen praktischen Hinterausgang hat, die Frauenkleider anzieht und in dem Durcheinander der vermeintlichen Siegesnachricht ungehindert an Cavaradossis Arm aus der Kirche geleitet wird. Bühnenbild und Kostüme (Johannes LEIACKER) sind passend, wobei man sich schon fragt, was die Berufsgenossenschaft zu dieser Leiter des Malergerüsts wohl gesagt haben mag.
Aber dann wird es mit dem zweiten Akt merkwürdig, und ich habe wirklich nicht verstanden, was da warum passiert. Der Vorhang öffnet sind, Scarpia, Cavaradossi und Angelotti, noch immer in den Frauenkleidern, sitzen am festlich gedeckten Tisch. Rechts führt eine Tür in Raum 101, was auf Orwells „1984“ hinweisen soll. Im Hintergrund repariert jemand das Waschbecken. Nein, ich weiß nicht warum (spontaner Gedanke: „Hoffentlich bekommt der Klempner für diesen Notfalleinsatz am Abend Überstunden bezahlt.“). Scarpia zwangsfüttert Cavaradossi und fordert ihn bei „Aperti!“ auf, den Mund zu öffnen. Spoletta erscheint und berichtet, daß man Angelotti nicht finden konnte, dafür aber Cavaradossi mitgebracht habe. Daß die beiden Herren bereits seit mindestens fünf Minuten am Tisch sitzen, scheint niemanden zu irritieren, wie auch die Hälfte des Aktes die Anwesenheit von Angelotti komplett ignoriert wird. Tosca kommt und erhält eine Augenbinde; Cavaradossi wird auf offener Bühne gefoltert, wie genau ließ sich von meinem Platz nicht erkennen, offenbar spielte jedoch eine Stoffserviette eine maßgebliche Rolle. Warum Cavaradossi Tosca noch fragen muß, ob sie das Versteck verraten hat, ist nicht nachvollziehbar, immerhin lag er direkt daneben, als sie es tat. Immerhin werden nach dem „Vittoria“ beide Gefangenen von der Bühne gebracht, die Tötung Scarpias ist wieder relativ konventionell inszeniert.
Der dritte Akt ist dann wieder diskutabel. Offenbar findet er als Wahnvorstellung von Tosca, die durch Scarpia und dessen Tötung traumatisiert ist, statt. Die Wände öffnen sich, Scarpias Leiche bleibt am Tisch sitzen und übernimmt den Text des Schließers. Der Hirte ist Tosca als Kind, sie selbst bleibt die ganze Szene auf der Bühne. Im Hintergrund sieht man Angelotti am Galgen hängen. Cavaradossi scheint nur in der Vorstellung von Tosca anwesend zu sein. Am Schluß flüchtet sie nach vorne vor dem Vorhang, vielleicht in die Arme des rettenden Publikums.
Mit Alex PENDA in der Titelrolle wurde ich in den ersten zwei Akten nicht wirklich warm. Sie sang anständig, sie spielte auch, aber sie war zu allgemein, zu wenig greifbar als Figur, eigentlich fast etwas langweilig. Bei „Vissi d’arte“ fehlte mir die Verzweiflung, das Flehen, die Entschlossenheit. Aber dann im dritten Akt spielte die Sängerin groß auf und war in der Lage, sehr deutlich zu machen, daß das alles nur in ihrer Phantasie stattfindet.
Eduardo ALADRÉN war ein guter Cavaradossi. Die Stimme ist nicht wirklich aufregend, aber sicher geführt, und in der Phrasierung macht er etwas daraus. Er spielt sympathisch, ist überzeugend in der Rolle und in jeder Sekunde präsent.
Ich bin sicher, daß Lucio GALLO inzwischen auch einen exzellenten Scarpia singen würde, wenn man ihn nachts um drei weckte, so perfekt sitzt die Phrasierung, so genau paßt die Interpretation. An diesem Abend steigerte er seine Leistung aber noch einmal. Mit immer vorhandener unterschwelliger Gefährlichkeit und unterdrücktem Begehren in der Stimme, was beides manchmal explodiert, Schmeicheln, um im nächsten Moment Brutalität zu zeigen, dabei aber niemals die Gesanglinie verlassend.
Angelotti war mit David JERUSALEM auf hohem Niveau besetzt, Luis Fernando PIEDRA als Spoletta und Andrei NICOARA als Sciarrone würde man gerne in größeren Rollen wiederhören, Anna MAMUTSCHARACHWILLI als Hirte/Tosca als Kind war außergewöhnlich, Peter Nikolaus KANTE sang einen guten Mesner.
Die DUISBURGER PHILHARMONIKER unter Aziz SHOKHAKIMOV waren ohne Fehl und Tadel. Es gab weder Verspieler, noch wurde zu stark auf die Effekte gesetzt. Das Stück fand im Graben statt, so daß man, während man über die Regie rätselte, wenigstens sich keine Gedanken über merkwürdige Tempi oder ähnliches machen mußte. Der CHOR DER DEUTSCHEN OPER AM RHEIN und der KINDER- UND JUGENDCHOR ST. REMIGIUS IN DÜSSELDORF WITTLAER fügten sich hier gut ein. MK