„Cosi fan tutte“ – 9. Oktober 2021

Es ist unklar, was die meisten Kritiker eigentlich an der Neuproduktion von Vincent HUGUET auszusetzen haben. Ja, sie erfindet das Stück nicht neu, aber sie läßt das Stück stattfinden. Ein paar Hippies sind jetzt nicht der Rede wert, um die Produktion albern oder überzogen zu finden. Vielleicht bin ich auch nur von der aktuellen Hamburger Produktion zu geschädigt, aber nach meiner Meinung war es eine sehr gute Regie mit exzellenten Einfällen und einer Personenführung auf den Punkt genau, niemals gegen die Musik.

Alfonso erwischt zu Beginn offenbar eine Freundin beim Fremdgehen und geht die Wette nur aus Frustration ein. Das sorgt eben folgerichtig auch dafür, daß die ganze Intrige nicht besonders gut vorbereitet ist und ihm schon sehr bald entgleitet. Ständig muß improvisiert werden. So zieht Despina in der Arztverkleidung als Magnet aus Deutschland einen Mercedes-Stern hervor. Sekunden später übergibt sie diesen zusammen mit dem zugehörigen Autoschlüssel dem verärgerten Besitzer des Autos Alfonso. Die Frauen haben sehr schnell begriffen, daß irgendetwas faul ist an den beiden Verehrern und spielen erst einmal mit. Ab wann sie wissen, daß es ihre Verlobten sind, bleibt zwar unklar, aber wenn sie durch einen geschickten Rollentausch, der so gut gemacht ist, daß das Publikum ihn erst zur Auflösung erkennt, die Intrige zu ihren Gunsten am Ende drehen, ist das schon sehr überzeugend.

Alle sechs Sänger sind nicht nur ungewöhnlich gute Darsteller und verfügen über eine vorbildliche Phrasierung (man hätte auch ohne Italienischkenntnisse oder Übertitel dem Text problemlos folgen können), sondern auch optisch absolut rollendeckend; da hat es auch keine peinlichen Momente, wenn die Herren sich bis auf die Shorts ausziehen, oder Dorabella in die Badewanne steigt.

Das Bühnenbild (Aurélie MAESTRE), im Hintergrund der Vesuv, im Vordergrund eine Strandpromenade bzw. das Haus der Damen, ist sehr ästhetisch, die Kostüme von Clémence PERMOND sind kleidsam und angemessen bizarr in der Verkleidung.

Federica LOMBARDI sang eine Fiordiligi mit großen Bögen, vollem, runden Sopran, der in keinem Moment in den dramatischen Ausbrüchen auch nur an Grenzen zu stoßen zu drohte. Marina VIOTTI stand ihr ins nichts nach, auch sie war absolut tadellos mit ihrem warmen Mezzo, der gleichfalls jederzeit ungefährdet war. Die beiden Stimmen harmonierten zudem außergewöhnlich gut.

Gyula ORENDT als Guglielmo war stimmlich und darstellerisch unangefochten, in jeder Sekunde präsent, mit in dieser Rolle selten gehörtem Volumen, daß schon auf dramatischere Rollen weist. Paolo FANALE verfügt über eine schöntimbrierte Tenorstimme, er spielt auch sehr überzeugend, daß Ferrando irgendwann das Interesse an der Wette verloren hat. Minimale Konditionsprobleme am Ende von „Scernito, tradito“ setzten sich erfreulicherweise dann nicht mehr fort.

Trotz der hochklassig besetzten Paare gebührt die Krone hinsichtlich der Charakterisierung Despina und Alfonso. Mit Barbara FRITTOLI in ihren lirico spinto-Rollen bin ich nie recht warm geworden. Bei Mozart oder auch wenn sie komisch sein darf, hingegen wirkt sie unglaublich spontan, beweglich, spielt mit der Stimme, ohne dabei die Stimmschönheit zu vernachlässigen. Ihre Despina scheint sich an der Intrige zu beteiligen, weil sie Alfonso will. Und da knistert es schon gewaltig. Lucio GALLO singt Mozart mit großer Freude am Phrasieren noch immer so kompetent, als habe er nie etwas anderes getan. Sein Alfonso ist ein Lebemann in den vielleicht nicht mehr ganz besten Jahren, der gerne so zynisch und desillusioniert wäre, wie er sich gibt, aber die Maske bröckelt gewaltig und läßt viel Verletzlichkeit und erlittene Verletzungen spüren.

Der STAATSOPERNCHOR unter Martin WRIGHT ist nicht nur stimmlich mit viel Enthusiasmus dabei, zumal die einzelnen Sänger auch szenisch einiges zu tun bekommen. Am Pult der STAATSKAPPELLE BERLIN steht Daniel BARENBOIM und dirigiert einen vollmundigen Mozart, was anhand des Umstands, daß die Gesangspartien mit größeren Stimmen als häufig üblich, besetzt waren, sehr gut paßte. Das Stück lief im Graben genauso lebendig ab wie auf der Bühne. MK