Mißtrauen ist immer dann angebracht, wenn man seitens eines Theaters gesagt bekommt, die Handlung eines Stücks sei zu verworren, um für den Zuschauer verständlich zu sein.
Die Handlung von Verdis „La forza del destino“ haben wir beim ersten Mal verstanden. „Il Trovatore“? Kein Problem, und auch die Handlung von Leonard Bernsteins „Candide“ ist trotz aller Wendungen nicht so schwer nachzuvollziehen, wenn sich vorab damit beschäftigt. Dieses „wenn“ ist natürlich essentiell, aber leider nicht selbstverständlich.
In Lübeck hat man nun unterstützend eingegriffen und bringt „Candide“ mit verbindenden Texten und Live-Illustration (diesmal Robert NIPPOLDT und Lotta STEIN) auf die Bühne. Man wagt man sogar die steile These, Loriots Version hätte das Stück gerettet. Global betrachtet, ist das vielleicht doch etwas hochgegriffen.
Die Live-Illustration – teils durchaus witzig, dann wieder etwas arg bemüht – wird aus dem Orchestergraben auf eine riesige Leinwand, von der man im dritten Rang übrigens den oberen Teil nicht sehen kann, übertragen. Das Orchester wurde dafür auf die Hinterbühne verbannt. Der Chor darf mit in den Graben.
Das Konzept von Ronny SCHOLZ setzt mehr auf Situationskomik als auf das Erzählen der Geschichte und trägt zum hintergründigen Stückverständnis wenig bei. Klamauk wird großgeschrieben, weshalb die in Musik und Text eingewobene Tragik auf der Strecke bleibt. Und wenn sich die Zuschauer dann lachend auf die Schenkel schlagen, ist man endgültig bei einer Samstagabend-Comedyshow mit Musikeinlagen angekommen.
Es wäre schön gewesen, wenn man mehr von der Musik und den Texten, die ja immerhin von großen Namen des amerikanischen Theaters wie Stephen Sondheim oder Lilian Hellman stammen, hätte hören können als von den Publikumsreaktionen auf die Illustrationen.
Weshalb sollte man sich auf den Weg ins Theater machen, wenn man die meiste Zeit wie im Kino auf eine Leinwand starren soll? Ganz einfach, weil der Abend zum Glück musikalisch doch Einiges zu bieten hatte.
Da muss zuallererst Noah SCHAUL als Candide genannt werden, der die Gelegenheit, sich in einer Hauptrolle zu behaupten und einen Abend zu tragen, nutzte und sich in allen Facetten perfekt präsentierte. Er sang großartig, er wäre auch ergreifend in seinen Soli gewesen, wenn nicht jedes Mal die Stimmung wegen eines in diesem Fall unpassenden Gags auf der Leinwand zerstört worden wäre. Es kann nicht leicht für die Sänger sein, unter diesen Umständen die Spannung und Konzentration zu halten.
Sophie NAUBERT fehlte als Cunegonde ein wenig die Balance zwischen Komik und Tragik. Der jugendliche Überschwang der Figur kam gut zur Geltung, doch sie verlor gerade auch bei „Glitter and Be Gay“ den zweischneidigen Unterton. Daß die Regie die Tragik der Arie nicht verstehen wollte, ist allerdings weniger ihre Schuld. Mit ihrer hübschen Stimme ohne jede Schärfen machte sie aber definitiv Lust auf eine Wiederbegegnung auf der Lübecker Bühne.
Gerard QUINN bewies als Dr. Pangloss nach Cole Porter nun auch bei Bernstein seine Musical- und Show-Qualitäten. Es war aber Martins „Words, Words, Words“, das ob seiner Authentizität intensiv nachhallte.
Jacob SCHARFMAN (Maximilian, Captain, Inquisitor II, Judge II) zeigte seine Vielseitigkeit nicht nur durch vier verschiedene Rollen, sondern daß er eben auch in diesem Musikstil zuhause ist. Sein Captain war ein besonderes Kabinettsstückchen.
Old Lady Gabriella GUILFOIL überzog die sowieso ja schon extrem skurrile Rolle maßlos. Es wurde auch nicht wirklich klar, ob sie nun eine komische Alte oder eine reife femme fatale sein sollte; es wäre sicherlich auch eine Mischung aus beidem möglich gewesen, aber dafür hätte sich der Regisseur mehr für die Figuren interessieren müssen.
Andrea STADEL sang und spielte eine sehr präsente Paquette. Opernstudio-Mitglied Wonjun KIM (auch Inquisitor I., Judge I., Vanderdendur, Ragotski) war als Governor großartig lebensecht. Sein Kollege Robin FRINDT (Inquisitor III., Judge III. und Croupier) hinterließ einen perfekten ersten Eindruck. Man darf gespannt sein, welche Aufgaben der junge Baß zukünftig so oder ähnlich meisterlich bewältigt.
Loriots Texte, die offenbar erneut bearbeitet worden waren, zündeten an diesem Abend nicht ganz. An Steffen KUBACH als Erzähler kann das eigentlich nicht gelegen haben, dieser war was Timing und Artikulation anging, wie fast immer bei ihm, auf den Punkt, aber ob der Umstände war es kaum möglich, irgendeine Verbindung zu einer der Figuren aufzubauen.
Der CHOR (Leitung: Jan-Michael KRÜGER), immer mal wieder als zum jeweiligen Ort der Handlung neu betiteltes Laienensemble, hatte im Graben Spaß, tanzte auch lebhaft, wobei unklar ist, wieviel man davon aus dem Parkett sehen konnte.
Das PHILHARMONISCHE ORCHESTER hatte einen überragenden Abend. Unter musikalische Leitung von Nathan BAS spielten sie Bernsteins Musik, als würden sie nie etwas anderes tun. Das hatte Pep und Drive und bewies, daß man auch einfach hätte versuchen können, dem Stück zu vertrauen, denn es sind schon genug Witze darin enthalten. AHS & MK