„Lucia di Lammermoor“ – 9. Mai 2025 (Premiere)

Norddeutschland und Donizettis „Lucia di Lammermoor“ sind definitiv kein Match. Die letzten Inszenierungen in Hamburg, die Kieler Produktion und nun auch die aktuelle Deutung in Lübeck tragen dafür Rechnung.

Keine Ahnung, wer sich noch an die letzte Lübecker „Lucia“-Produktion erinnert. Das ist immerhin mehr als 25 Jahre her. Umso erstaunlicher, daß man immer noch Bilder davon im Kopf hat. Ob dies für die an diesem Freitag erstaufgeführte Inszenierung gelten wird? Eher nicht.

Es ist unbenommen in Ordnung, alles anders machen zu wollen. Die Idee der Regisseurin, Lucia als unterdrückte, vom männlichen Umfeld permanent beobachtete und bewertete Frau, die sich im Laufe des Stücks durchaus brutal emanzipiert, ist allerdings nicht neu. Damit konnte man sich u.a. bereits in Hamburg auseinandersetzen. Verschenkt wird dies, wenn es in der Szene zwischen Lucia und Alisa, eben in jenem Moment, in dem Lucia sich frei und sicher fühlt, keine Beobachtung stattfindet.

Auch Grundidee und Ausführung paßten für mich nicht aufeinander. Ein bißchen mehr Blick auf Details wäre zudem glücklich gewesen. Man sah, wie Alisa im 2. Bild des 2. Aktes aus der Gasse unter Lucias überlange Schleppe kroch, und wie kurz darauf Edgardo ziemlich deutlich von oben die Szene betrat, um anschließend überraschend zu erscheinen. Wenn Raimondo zu Beginn die von Enrico im Wahn zerpflückte Orange sorgfältig und seinen Herrn tadelnd aufsammelt, würde es mehr Sinn machen, wenn er sie nicht anschließend einfach zur Seite wirft.

Weshalb sämtliche Männer degradiert werden, obwohl die Musik dies nicht hergibt, und man damit Lucia ihre Stärke nimmt, lehnt sie sich doch gegen Konvention und Bruder bis zur letzten tragischen Konsequenz auf, läßt sich aus dem Kontext der Produktion nicht herleiten.

Der Groll gegen die letzte Szene ist für mich ebenfalls nicht nachvollziehbar. Schon Scotts Vorlage endet nach Lucias Beerdigung, schlimmer noch, Arturo überlebt. Ja, Donizetti hat Edgardo ausgesprochen schöne Musik dafür geschrieben. Das setzt aber in keiner Weise den Raum, der Lucia als Figur gegeben wird, und die für sie geschaffenen musikalischen Highlights herab.

Das Bühnenbild (Tatjana IVSCHINA) wurde von der Tribüne, auf der der Chor permanent Platz nahm und auch die meisten seiner Aufgaben bewältigte, beherrscht, Am Anfang fand man sich in einem herbstlichen Wald, durch den Lucia und Alisa barfuß und in Sommerkleidern springen, und in dem sich später das Liebespaar im Laub wälzt. Die Lichtregie von Falk HAMPEL vermochte ein weiteres Mal, die Szenen in die richtige Stimmung zu versetzen.

Die Kostüme (auch Tatjana Ivschina) wirkten zeitlich indifferent. Da gab es die erwähnten Sommerkleider sowie ein historisch angelehntes Brautkleid. Edgardo schien einer aktuellen Straßenszene entsprungen. Enricos Mannen zeigten – auch in der Choreo – „Tanz der Vampire“-Anlehnungen.

Starke, sich emanzipierende Frauenfiguren gab es auf der Lübecker Opernbühne schon häufiger. Man denke nur an Brünnhilde, Kundry oder zuletzt Elsa sowie Ortrud, vor allem aber an Gutrune als Prototyp einer mißbrauchten Frau. Der Regisseurin dieser „Lucia di Lammermoor“ ist es nicht gelungen, mir das ebenso meisterlich zu vermitteln.

An den Sängern kann es nicht gelegen haben.

Changjun LEE gab ein beeindruckendes Raimondo-Debüt. Es war ein Vergnügen, ihm dabei zuzuhören, wie er die Figur stimmlich formte, ihr Volumen und Autorität verlieh. Die warmen, angenehm klingenden Tiefen gepaart mit vollendet gesungenen Bögen waren das i-Tüpfelchen auf diesem ausgefeilten Belcanto.

Ungewohnt zurückhaltend wirkte Jacob SCHARFMAN. Was er normalerweise aus nicht alltäglichen Regieideen macht, konnte man bis vor kurzen in der „Boheme“-Produktion bewundern. Enrico war nur kurz zu Beginn deutlich dem Wahn verfallen. Ansonsten war er primär Handlungsfortführender. Als dann Lucias Mißbrauch überflüssigerweise in Inzestandeutungen gipfelte, brachte der Bariton das mit höchstmöglichem Anstand über die Bühne.

Konstantinos KLIRONOMOS (Edgardo) hatte stimmlich keinen besonders guten Abend. Es steht zu hoffen, daß dies nur die Abendform gepaart mit Premierennervosität war. So lief ihm Noah SCHAUL (Arturo), der immer besser wird und nicht nur stimmlich einen großen Sprung gemacht, sondern auch noch einmal deutlich an Selbstbewußtsein und Präsenz zugelegt hat, den Rang ab. Auch Wonjun KIM, obwohl als Normanno stellenweise akustisch ungünstig platziert, zog die Aufmerksamkeit auf sich.

In der Konstellation Alisa – Lucia war das ähnlich. Delia BACHER besitzt eine schöne, warm klingende Stimme ohne jegliche Schärfen. Dazu erfüllte sie alle ihr auferlegten Regieaufgaben scheinbar mühelos und wirkte in jedem Moment grazil.

Sophia THEODORIDES klang als Lucia nach der Pause wesentlich besser als davor, wo es gerade in den Höhen und Koloraturen von Zeit zu Zeit eng zu werden schien. In der Wahnsinnsszene managte sie nicht nur den Blutstrom, der ihr weißes Nachthemd mehr und mehr rotfärbte, sondern auch die nicht unkritische Gesangsaufgabe. Ob sie mir persönlich nachhaltig in Erinnerung bleibt, wage ich zu bezweifeln. Dafür fehlte es mir nicht nur, aber gerade auch in der umgeschriebenen Schlußszene, an Präsenz.

Bei CHOR und EXTRACHOR (Leitung: Jan-Michael KRÜGER) waren es einmal mehr die Damen, die durch Stimmpräsenz und -gewalt Donizettis Musik optimal präsentierten. Enervierend war die ausgesprochen alberne Choreographie zu „Per te d’immenso giubilo“, die Damen wie Herren aber immerhin im Takt managten.

Gespielt wurde mit Raimondo-Arie und mit Glasharmonika für die Wahnsinnsarie, aber ohne Turmszene. Wahrscheinlich paßte Letztere nicht ins Konzept.

Im ORCHESTER gab es vor der Pause einige Wackler, insbesondere im Blech. Takahiro NAGASAKI leitete den Abend aber souverän und feinsinnig. Aus dem Graben hörte man jene Donizetti-Oper, die man auf der Bühne kaum zu sehen bekam, mit all der ihr gebührenden Leidenschaft und Musikalität.

Es bleibt also dabei, daß derjenige, der die besten und stärksten Frauengeschichten auf der Lübecker Opernbühne erzählt, ein Mann ist, und daß „Lucia“ in Lübeck ist, wenn Roberto Gionfriddo in der Turmszene Drinks serviert – und natürlich immer mit einem Gedanken an Renée Sessely. AHS