Brittens Opern würden nie Top of the Pops sein, schrieb mir jemand, als ich die Leere des Zuschauerraums an diesem Abend beklagte. Das ist so wahr wie schade – für Brittens Werke allgemein und für diese aktuelle Lübecker Produktion im Besonderen.
„Owen Wingrave” gehört ohne Zweifel zu den wichtigen pazifistischen Werken. Das Stück zeigt eine Gesellschaft, die so stark vom Militär, dessen Erfolgen und von militaristischem Patriotismus durchdrungen ist, daß sie so etwas wie die „Order of the White Feather“ hervorbringt. Es ist in seiner Vielschichtigkeit aber nicht nur ein Gesellschafts-, sondern auch ein Familiendrama. Spencer Coyle singt irgendwann „all my life I have taught the art of war, but for war in the family there’s no answer in the books” und trifft damit den Kern des Konflikts.
Regisseur Stephen LAWLESS und Ausstatter Ashley MARTIN-DAVIS haben hier eine Produktion auf die Bühne gebracht, in der sich immer wieder spannende Bilder entwickeln und verändern, während man zuschaut, in denen auch stets beide Seiten der Geschichte beleuchtet werden. Eine Produktion. die Lust darauf macht, das Stück nach und nach zu entdecken und den Weg des Protagonisten bis zum Ende mitzugehen.
Die STATISTERIE des Theater Lübeck wurde perfekt in den Spielfluß eingebunden. Ebenso perfekt in die Szenerie eingebundene Videos und die ausgefeilt abgestimmte Lichtregie von Falk HAMPEL ergänzen den Eindruck grandiosen Theaters, von dem man sich wünscht, es würde länger als zwei Stunden andauern.
Die Lösung, was in jenem Zimmer geschieht, ist so genial wie perfekt in Szene gesetzt. Und wenn dann am Ende leise, beinahe unmerklich der Aktualitätsbezug herabrieselt, hat dies bei Weitem mehr Intensität als jede gewollt auf die Jetztzeit gebügelte Produktion je haben wird.
Mit Spencer Coyle hat Gerard QUINN wieder eine jener Rollen jenseits des Standardrepertoires gefunden, die er von der ersten Sekunde zu eigen macht und perfekt auszufüllen weiß. Hilflos steht seine Figur der dem Unvermeidlichen entgegenstrebenden Entwicklung gegenüber, wo sie doch nicht mehr als helfen will. Wie vollendet sich das in Gesang, Textbehandlung und Darstellung widerspiegelte, war einmal mehr beeindruckend.
Evmorfia METAXAKI gelang es als Mrs. Coyle, dem ein liebevoll wirkende Ergänzung zu sein. Jegliche Kommunikation, verbal oder non-verbal, zwischen beiden Figuren ist perfekt abgestimmt. Jede Geste, jeder Ton saßen. Auch in diesem musikalischen Umfeld bewegt die Sängerin sich stimmlich ausgesprochen sicher und besticht mit klangschönem Gesang.
Überraschend gut gelang Yoonki BAEK die Charakterisierung Lechmeres als systemkonformen Hallodri, bei dem sich all die Sorglosigkeit ebenso in der gelungenen stimmlichen Gestaltung widerspiegelt wie später die Sorge über den Freund.
Sabina MARTIN beeindruckte als Miss Wingrave, deren stimmliche Präsenz allein schon die Grenzen spiegelte, an denen Owen sich aufreiben wird. Sie wirkte wie ein Abbild jener fast lebensfeindlichen Atmosphäre des Wingrave-Anwesens in all seiner Bedrohlichkeit.
Nicht minder furchteinflößend war Wolfgang SCHWANINGER als Sir Philip Wingrave, bei dem man nicht eine Sekunde daran zweifelt, wer das letzte Wort in der Familie Wingrave hat. Und als Wolfgang Schwaninger dann den zweiten Teil des Abends mit der Erzählung über den Vorfahren der Wingraves und seinem Mord am eigenen Sohn eröffnete, war das nicht nur gänsehauterzeugend, sondern klang stimmlich noch einmal komplett anders. Unterstützt wird er hier vom bestens disponierten Kinderchor Vocalino (Leitung: Gudrun SCHRÖDER), dessen junge Künstler der gruseligen Stimmung eine weitere Facette im besten Sinne hinzufügen.
Andrea STADEL als Mrs. Julian und Wioletta HEBROWSKA als Kate brachten ihrerseits einen weiteren Teil jener Gesellschaft auf die Bühne, der Herkunft und Prestige alles sind. Beiden gelang dies virtuos mit großartigen gesanglichen Leistungen und feiner Zeichnung ihrer Charaktere.
Owen Wingrave (Johan Hyunbong CHOI) selbst hatte gegen diese Übermacht letztlich keine Chance außer der Flucht. Versagt er? Gewinnt er am Ende? Dies blieb ein Stück weit auch der Interpretation des Zuschauers überlassen.
Das PHILHARMONISCHES ORCHESTER unter der Leitung von Stefan VLADAR klang über weite Teile beeindruckend gut. Es fehlte vielleicht ein Tick an Emotionalität, am Mut, sich Werk und Augenblick in den Dienst zu stellen.
Dem Lübecker Theater ist zu wünschen, dass diese Britten-Inszenierung vielleicht doch Top of the Pops seines Publikums wird. Ein Platz bei meinen Lieblingsproduktionen hat sie sicher. AHS