Es ist Ostern, man bleibt noch immer zu Hause. Was könnte da naheliegender sein, als die beiden sehr unterschiedlichen Produktionen von „Jesus Christ Superstar“, die uns arte am Karfreitag und Andrew Lloyd Webbers Produktionsfirma ab Karfreitag für 48 Stunden auf youtube zeigt, zu schauen, und gleichzeitig zu prüfen, ob das Musical, in das man sich mit zwölf verliebt hatte, und mit dessen Texten man seine Kenntnisse der englischen Sprache enorm steigerte, noch heute funktioniert.
Diese Frage kann man nur uneingeschränkt bejahen. Die Musik klingt frisch und ist exzellent gealtert Das ist etwas, was man für ein fünfzig Jahre altes Stück nicht immer sagen kann. Die US-Version ist bei dem E-Gitarren härter, fast schon brutal, während die UK-Produktion in der Dramatik kaum zu überbieten scheint.
Die US-Version (Regie: David LEVEAUX und Alex RUDZINSKI) spielt in einer Dystopie, irgendwo zwischen „Mad Max“ und „Waterworld“ ohne Wasser. Alles ist zerstört, die Römer, Priester und Herodes leben quasi die Dekadenz in den letzten noch erhaltenen Teilen. Die Kreuzigung wird hier zur Erlösung, zum Weg vielleicht in eine zwar unwahrscheinliche, aber noch irgendwie mögliche positive Zukunft.
Die ältere britische Fassung (Regie: Laurence CONNOR) ist politischer, Jesus ist der geistige Führer junger Menschen, die eine weniger kapitalistische Welt sich erträumen, die Priester und Römer sind das Establishment, Herodes führt gar eine Trash-Talkshow. Überall sind Massenkommunikationsmittel vorhanden, auf der rückwärtigen Leinwand sind Überschriften und Tweets zu sehen. Jesus‘ Folterung erinnert an Bilder aus Guantanamo oder Abu Ghraib. Ob hier sich tatsächlich etwas ändern wird, bleibt sehr offen.
Von der Besetzung ist die britische Version insgesamt stärker, alle Darsteller gehen weiter in die Tiefe, loten die klugen Texte von Tim Rice besser aus und können auch mit ihren Rollen teilweise mehr anfangen.
Besonders auffällig ist dies in der Titelrolle. John LEGEND in der US-Fassung fehlt oft an entscheidenden Stellen an Kraft, zudem ist er einfach zu wenig charismatisch. Er ist sympathisch, aber man glaubt nicht, daß ihm Massen folgen. „Gethsemane“ ist bei ihm nur ein weiterer Song. Was hingegen Ben FORSTER daraus macht, ist ein echtes Psychodrama, ein tour de force-Ritt der Gefühle. Die Stimme ist sicherlich nicht immer absolut schön, aber nie langweilig. Und da ist soviel Charisma, daß man den Priestern nur zustimmen kann: „He is dangerous.“
Judas ist in der UK-Version Tim MINCHIN, zunächst irritierend lyrisch, aber das paßt zu der Interpretation der Rolle, daß er doch eigentlich nur Jesus vor sich selbst retten möchte, und keinen anderen Weg sieht, weil der einfach nicht zuhört. Man hat von der ersten Szene an Mitgefühl mit ihm, ohne daß er larmoyant wirkt: Dabei ist er immer noch ein gleichwertiger Gegenspieler für Forsters Jesus. Brandon Victor DIXON ist zynischer, sein Judas hat sich schon von Jesus ein Stückweit zu Beginn entfernt. Leider gibt es bei ihm ein paar Stellen, an denen auch ihm die Kraft auszugehen droht.
Maria Magdalena ist in der US-Fassung mit Sara BAREILLES gut besetzt, sie singt tadellos und absolut rollendeckend, allerdings wirkt sie als Figur ein bißchen langweilig. Überraschend gut nicht nur Gesang, wo man es erwarten konnte, sondern auch in der Darstellung, insbesondere mit einer sehr durchdachten Interpretation von „I don’t know how to love him“ ist Melanie C.
Pilatus wird sehr gut gespielt und wenig überzeugend gesungen von Ben DANIELS in der amerikanischen Version, während Alex HANSON eigentlich alles aus der Rolle macht, was geht. Zu „Pilate’s Dream“ bereitet er sich offenbar gerade auf einen Prozeß vor inklusive Schlüpfen in Richterrobe und Aufsetzen von Puderperücke, später kommt er offenbar gerade vom Sport; eigentlich ein jovialer Kerl, der überhaupt keine Lust hat, dieses Jesus zu verurteilen.
Simon und Peter (Giovanni SPANO und Michael PICKERING/UK sowie Erik GRÖNWALL und Jason TAM/US) sind alle vier auf hohem Niveau und bleiben trotz ihrer nicht allzulangen Auftritte in Erinnerung.
Die Priesterszenen sind tatsächlich in beiden Produktionen echte Höhepunkte. Den jeweils namenslosen Priestern muß man in beiden Ensembles uneingeschränktes Lob zollen. Die beiden Darsteller des Annas Jin HA (US) und Gerard BENTALL (UK) sind beide großartig, Jin Ha eher schleimig, Bentall brutaler. Caiaphas ist in UK mit Pete GALLAGHER besetzt, der stimmlich gut, darstellerisch aber noch besser mit elitärer Arroganz ist. Einen Tick besser gefällt mir noch Norm LEWIS, der stimmlich noch etwas überzeugender ist, aber ebenso viel Arroganz verbreitet, auch wenn er wie ein Bewohner Gallifreys kostümiert ist.
Bei Herodes ist Chris MOYLES, britischer Talkshowhost, zwar ordentlich, aber nicht außergewöhnlich. In der Rolle wird er leicht von Alice COOPER überboten, wobei dieser gar nicht viel macht, den Part sehr anständig singt, aber soviel Boshaftigkeit in der Stimme strömt, daß er wirklich zum Fürchten ist, selbst wenn er beim Singen nur so dasteht.
Beide Versionen sind, auch gerade wegen den unterschiedlichen Regieansatzes, sehr ansehbar und zu empfehlen. MK