Es gibt so Lieben auf den ersten Ton, die sich auch durch über dreißig Jahre kaum verändern. Verdis „Stiffelio“ wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben.
Es ist aber auch ein wirklich für die Zeit unglaubliches Sujet, was Verdi sich das gewählt hat; der protestantische Pastor Stiffelio, der verfolgt wird und unter falschem Namen Lina geheiratet hat. Als er von einer Reise zurückkehrt, muß er vermuten, daß Lina ihn zwischenzeitlich betrogen hat. Fast alle außer ihm scheinen zu wissen, daß etwas geschehen ist. Nach genremäßig fehlgeleiteten Briefen sieht Stiffelio den Beweis des Fehltritts, aber noch nicht die Person des Liebhabers. Linas Vater Stankar weiß bereits mehr und fordert ihren Liebhaber Raffaele zum Duell, Stiffelio geht dazwischen und rettet Raffaele das Leben, um gleichzeitig zu erkennen, daß dieser Linas Affäre war. Stiffelio ist entschlossen, nicht wie es die Opernkovention vermuten ließe, Lina und Raffaele zu töten, sondern ganz modern, sich von Lina scheiden zu lassen. Beide unterschreiben tatsächlich eine Scheidungsurkunde. Lina jedoch, in einem wirklich cleveren Schachzug, verlangt nunmehr, wenn Stiffelio nicht mehr ihr Mann, aber immer noch ihr Seelsorger ist, sich ihm anvertrauen zu müssen und bittet um Vergebung. In diesem Moment gelingt es Stankar schließlich doch, Raffaele zu töten, eine Stelle von, je wie man es sehen möchte, unfreiwilligem oder tiefschwarzem Humor (Stiffelio zu Lina über Raffaele sprechend auf die Tür des Nebenzimmers deutend: „Er ist da drinnen“ – Stankar aus dem Nebenzimmer mit blutigem Schwert kommend: „Non v’è più.“). Im anschließenden Gottesdienst schlägt Stiffelio zu seiner Predigt die Bibel wahllos auf, landet bei Jesus und der Ehebrecherin und vergibt Lina vor versammelter Gemeinde.
Und da haben sich Verdi und sein Librettist Piave wirklich gewundert, daß dieser Plot von der Zensur gehaßt und auch vom Publikum nicht gut angenommen wurde? In Italien, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts?
Interessanterweise verurteilen weder Musik, noch Text Lina wirklich. Sie ist zwar tief in Selbstvorwürfen verstrickt, aber zu keinem Zeitpunkt ist es ein Thema, daß sie bestraft werden müßte, ausgestoßen würde oder etwas Vergleichbares. Eigentlich versuchen fast alle anderen Beteiligten, sie zu schützen. Auch Raffaele ist kein skrupelloser Schurke, sondern scheint Lina tatsächlich irgendwie zu lieben. Stiffelio ist als Charakter komplizierter als die üblichen Tenorrollen, ein Mann im Zwiespalt zwischen seinen Gefühlen und seinem Glauben, zwischen großer Verletzung und Vergebung. Stankar ist auch etwas mehr als einer dieser typischen Verdi-Väter, er will den Ruf seiner Tochter bewahren, bewundert aber auch seinen Schwiegersohn aufrichtig und möchte diesen schützen. Es gibt keinen Bösewicht in diesem Stück, nur sehr verletzte Personen (wenn man vielleicht von Jorg, dem etwas eifernden Alt-Pastor absieht).
Philips hat damals eine große Zahl von früheren Verdi-Opern eingespielt unter dem Dirigat von Lamberto GARDELLI. Ich hatte vor einiger Zeit festgestellt, daß heute frühe Verdi-Opern nicht mehr so recht zünden. Hört man Gardellis in den siebziger und sehr frühen achtziger Jahren entstandenen Aufnahmen wieder, scheint das ein aktuelles Phänomen zu sein, denn die Stücke explodieren sehr wohl und sprechen sofort zu einem. ORF CHOR und SYMPONIE ORCHESTER sind hier mit vollem Einsatz dabei.
Es dürfte kaum jemanden geben, der mehr für die Ehrenrettung von „Stiffelio“ getan hat als José CARRERAS, der die Rolle auch Mitte der neunziger Jahre auf der Bühne verkörperte. Er wirft sich mit aller Kraft in die Rolle, gerät von einem Wutanfall in den nächsten Verzweiflungsausbruch, ohne je die Gesanglinie zu opfern. Die Phrasierung ist wie so oft vorbildlich, da wird jede Empfindung ausgelebt. Allein in seinem gequälten „Basti, basti!“ während Linas Beichte sind mindestens ein halbes Dutzend widerstreitende Emotionen zu hören.
Er und Sylvia SASS schenken sich nichts. Sie ist absolut sicher in technischer Hinsicht und schafft es, dieser Frau zwischen Gewissenbissen und tiefer Liebe zu ihrem Mann noch eine weitere Nuance zu geben, nämlich die Kämpferin, die nicht bereit ist, ihr Schicksal einfach so hinzunehmen. Man gönnt ihr die Erlösung durch die Vergebung.
Stankar wird von Matteo MANUGUERRA etwas knorrig, aber sehr anständig gesungen. Der Bariton ist sicherlich nicht als der ganz große Gestalter in die Operngeschichte eingegangen, füllt aber die Rolle gut aus.
Wladimiro GANZAROLLI (Jorg), in den Philips-Aufnahme quasi auf mittlere Baßrollen abonniert, und Ezio di CESARE (Raffaele) auf die zweiten Tenorrollen, erfüllen ihre Aufgaben solide. In den beiden kleinen Rollen Dorotea und Federico tauchen etwas unvermittelt immerhin Maria VENUTI und Thomas MOSER auf.
Ich habe diese Aufnahme immer wieder hervorgeholt, wenn ich wütend oder frustriert gewesen bin – spätestens nach Stiffelios erstem Wutausbruch ging es mir aus unerfindlichen Gründen besser. Vielleicht funktioniert das in diesen schwierigen Zeiten auch bei anderen? MK