Die meisten Leser wissen vermutlich nicht, wo Mérignac ist, außer wenn sie einmal nach Bordeaux geflogen sind: es ist die Flughafenstadt westlich von Bordeaux, beidseitig des Autobahnrings um die Hauptstadt des Aquitaine. Der Flughafen liegt außerhalb des Rings, doch „Le Pin Galant“, das Theater- und Kulturzentrum innerhalb. Das etwa dreißig Jahre alte Theater ist eines der vielen Mehrsparten-Häuser Frankreichs, und sein Programm lebt essentiell von durchreisenden Gruppen aller Art, meist Rock-Musiker und Komiker. Doch auch ein erhebliches Angebot „klassischer“ Musik, u.a. mehrere Operetten, die Pekinger Oper, „Zauberflöte“ der Warschauer Kammeroper, oder „Lakme“, „Traviata“ und eben „Hoffmanns Erzählungen“, die ich gesehen habe.
Die „Opéra éclaté“ (wörtlich übersetzt „Geplatzte Oper“) wurde vor zwanzig Jahren von Olivier DESBORDES gegründet. Der Regisseur und Manager versammelt alljährlich in Saint Céré (im Départment Lot, nördlich von Cahors) eine Schar junger Künstler und studiert meistens drei Opern oder Operetten ein, die in dem dreiwöchigen Festival von Saint Céré an verschieden Orten aufgeführt werden und das zu sehr mäßigen Preisen. Nach getanem Festival geht die ganze Truppe auf Tourneen, die in Dijon enden, wo Desbordes künstlerischer Berater ist.
Das Festival-Programm ist um das klassische Repertoire gebaut, wird durch Konzerte auswärtiger Ensembles bereichert und ist bewußt für ein Publikum gedacht, das von Oper wenig oder keine Ahnung hat. So lief heuer neben Offenbachs „Hoffmann“ auch dessen „Roi Carotte“, Rossinis „Barbiere“ und im Vorjahr „Carmen“ und „Traviata“. Vor einigen Jahren hat er sich sehr erfolgreich eines interessanten, praktisch unbekannten Werks von Kurt Weill angenommen, das in Massy Premiere hatte, „Der Silbersee“ auf einen Text von Georg Kaiser. „Der Silbersee“ war ein derartiger Erfolg, daß er drei Jahre später wieder aufgenommen wurde, und den ich dann nochmals in einem Pariser Theater gesehen habe. Natürlich beschränkt sich eine Reise-Inszenierung auf Opern mit reduziertem Personal, Bühnenaufwand und Orchester.
In der allgemeinen Offenbach-Frenesie, die gerade in Frankreich herrscht – über ein Dutzend Theater hat derzeit seinen Offenbach – konnte „Hoffmanns Erzählungen“ auch nicht fehlen. Doch diese letzte und einzige wirkliche Oper Offenbachs zu inszenieren ist schwierig, selbst für einen erfahrenen Regisseur in einem großen Theater. Offenbachs letztes Werk für eine Tournee einzustudieren, grenzt an Wahnwitz. Olivier Desbordes hat genügend davon, um dies zu unternehmen und damit durch halb Frankreich zu reisen. Die Aufführung hält sich bestens und ist ein großer Erfolg, und wird dann für eine Woche in Dijon gezeigt werden.
Nebenbei gibt es mehrere „Fassungen“, weil Offenbach die Idee hatte, vier Monate vor der Premiere zu sterben und daher die Uraufführung in der Opéra comique nicht erlebte. In manchen Fassungen werden die Akte in verschiedener Reihenfolge gespielt. In anderen mit dazu geschusterten Rezitativen von Ernest Guiraud, der hoffte, daß „Hoffmann“ in der Grand Opéra gespielt würde (gesprochener Text war dort verpönt, deshalb sahen „Zauberflöte“, „Fidelio“ oder „Capriccio“ ihre französische Erstaufführung in der Opéra comique).
Desbordes hat die übliche Fassung in der Reihung: Vorspiel, Olympia, Giulietta, Antonia und Nachspiel, mit gesprochenem Text, ohne Rezitative gewählt. In seinem Konzept wird das phantastische Element und – die im 19. Jahrhundert weit verbreitete – Beschäftigung mit Teufeln und obskuren Geistern aller Art, unterstrichen. Sein Bühnenbildner Patrice GOURON unterstützte ihn dabei bestens, der auch die sehr geschickte Beleuchtung und gute Lichteffekte besorgte. Alles spielt auf einem riesigen elliptischen Tisch auf der Bühne. Verschiedene Versatzstücke verändern diese Szene der Handlung entsprechend. Die Kostüme von Jean-Michel ANGAYS und Stéphane LAVERGNE vom studio FBI-21 waren – nicht immer – passend, um den optischen Eindruck dekorativ zu differenzieren.
Der Tisch war im Vorspiel in Luthers Keller eine gigantische Bier-Bar, die Choristen mit winzigen Zylindern auf dem Kopf saßen rings herum. Bei Spalanzani war nicht viel los, außer daß Olympia sehr dicke Beine und einen asiatisch inspirierten Hut gekrönt von einer Kugel trug. Sehr gelungen war der Giulietta-Akt, in dem der Chor venezianische Masken mit langen Nasen trug. Auf dem Tisch standen sechs große vierarmige Leuchter, deren schüttere Beleuchtung treffend einen Ball in einem venezianischen Palazzo vortäuschte. In der Spiegel-Arie „Scintille diamant“ war der Brillant-Ring Dapertuttos mit einem winzigen Lämpchen beleuchtet. Er schien den Ring unter die Gäste zu werfen, die ihn „auffingen“, indem sie in ihrer Hand ein kleines Lämpchen anknipsten. Im Antonia-Akt war die Sängerin teilweise in einem Loch in der Mitte des rot bespannten Tisch, was die Gefangenschaft der armen Antonia sehr gut vermittelte. Man mußte an Becketts „Oh les beaux jours“ denken.
Wie auch zu Offenbachs Zeiten war das Orchester „adaptiert“, Für das Arrangement hatte Philippe Capdenat gesorgt, das bisweilen etwas „blechlastig“ war, was auf Streicher-Defizit deutet. Der Dirigent Dominique TROTTEIN leitete ORCHESTER UND CHOR DER OPÉRA ÉCLATÉ mit viel Einfühlungsgefühl und war sehr auf die Verbindung zur Bühne bedacht. Der Studienleiter David ZOBEL hat ihn dabei offenbar gut unterstützt, denn die Sänger sangen durchwegs sehr gut.
Allen voran war Isabelle PHILIPPE in den vier weiblichen Rollen (Olympia, Giulietta, Antonia, Stella) hervorragend. Nur wenige Sängerinnen können sich das zutrauen und zufriedenstellend ausführen. Ich habe sie mehrmals in Compiègne in verscheidenen Rollen erlebt, zuletzt vor zwei Jahren als Zerline in Aubers „Fra Diavolo“. Mit ihrer sehr kultivierten, gut geführten Stimme meistert Isabelle Philippe die schwierigen Koloraturen Olympias mühelos, ebenso wie die tiefe Lage der Giulietta. Am besten lag ihr hörbar doch Antonia, wo sie ihre Stimme voll ausdrücken konnte, besonders im Duett „c’est une chanson d’amour“. Ihr Hoffmann, Andrea GIOVANNINI war ihr völlig ebenbürtig. Der junge Italiener besitzt einen kräftigen spinto Tenor mit strahlenden Höhen, den er sehr gut anwendet, sowohl in den lyrischen Passagen, wie auch in den mehr dramatischen Szenen, wie das Lied von Klein-Zack. Er spricht außerdem ausgezeichnet französisch.
Die Teufels-Rollen waren bei Jean-Claude SARRAGOSSE gut aufgehoben. Sein angenehmer Kavaliers-Bariton ist vielleicht zu wenig diabolisch und zu kultiviert, was er jedoch durch ausgezeichnete Diktion und Phrasierung wett machte. Nicklausse und die Stimme der Mutter sang Sabine GARRONE sehr passend, eigentümlicherweise trug sie ein Clown-Kostüm. Die vier Diener spielte Eric VIGNAU, der für die Rollen die richtige Buffo-Stimme mitbringt, der aber etwas deplaziert wirkte dank seiner hünenhaften Statur. Christophe LACASSAGNE als Luther und Crespel war stimmkräftig und spielte sehr ausdrucksvoll. In den kleineren Rollen outrierte Lionel MUZIN als Spalanzani und Nathanael sehr, während als Schlemil Alain HERRIAU rollendeckend war.
Das Publikum des ausverkauften Hauses (sehr viele Jugendliche) rings um Bordeaux, das vielleicht musikalisch nicht übermäßig gebildet ist, schätzte die Vorstellung sichtlich, denn es applaudierte sehr herzlich. Desbordes hat sichtlich seine Wette gewonnen, einem „Publikum, das Mozart, Verdi und Gounod nicht unterscheiden kann“, eine Oper nahe zu bringen. Es ist zu überlegen, ob hier eine mögliche Linie für die Zukunft der Oper liegt. wig.