„Frag‘ ihn doch, wie das so ist, wenn man alles kann.“, schlug jemand während meiner Vorbereitung auf dieses Gespräch vor. Okay, mache ich doch gern. Und? Ulrich KRATZ lacht und gibt dann zu bedenken: „Es will sich alles immer erarbeitet sein. Dahinter steckt eine unglaubliche Arbeit, das ist ja ganz klar.“
Wer steckt hinter dieser Aussage? Wer ist dieser Sänger, der einem mal eben innerhalb von zehn Sekunden drei grundverschiedene Charakteransätze für den Papageno („Ein Papageno kann sehr schüchtern sein, sehr naiv sein oder auf der anderen Seite so der Draufgänger.“) allein durch den Gebrauch von Mimik und Gestik vorspielen kann?
Der Bariton Ulrich Kratz gehört seit 1991 zum Ensemble des Lüneburger Stadttheaters. Ebensolange ist er Mitglied des Bayreuther Festspielchors. Mit verschiedenen Opern- und Musicalpartien trat er u.a. in Lübeck, Kiel, Oldenburg sowie am Landestheater Flensburg auf und war Gast bei den Burgfestspielen Jagsthausen, wo er auch in diesem Jahr wieder gastiert: In Jesus Christ Superstar als Pilatus.
Neben seiner sängerischen Tätigkeit unterrichtet er an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover und an der German Musical Academy in Osnabrück.
Wie begann der Weg von Ulrich Kratz auf die Bühne? „Es ist am Anfang, als ich mich an den Musikhochschulen bewarb, auch die Frage gewesen, vielleicht Schauspieler zu werden.“ Gemeinsam mit seinen Lehrern entschied er sich dann allerdings, zuerst seine Stimme ausbilden zu lassen. „Schauspielerei muß man zwar auch lernen, aber wenn das mit der Stimme funktionieren soll, sollte man nicht soviel Zeit verlieren.“
Auf der Suche nach Lehrern für Ausbildung seiner Stimme hat er unterschiedliche Ausbildungsstätten kennengelernt. „Ich war ein Semester in Dortmund, ganz kurz, ein knappes Jahr am Konservatorium in Salzburg, um dann endlich in Stuttgart in der Ausbildung Fuß zu fassen. Ich habe mir für meine Ausbildung wirklich Zeit genommen und bin zuerst Musikpädagoge/Gesangslehrer geworden.“ Beweggrund zu unterrichten, war nicht allein die Finanzierung des eigenen Studium, sondern auch, „den eigenen Standort dadurch zu bestimmen, das man versucht, das Erlernte weiterzugeben.“
Die Stelle am Theater Lüneburg war die erste feste Stelle, die ihm nach einer Zeit als freischaffender Sänger angeboten wurde. „Das Angebot, überhaupt eine feste Stelle zu bekommen, war toll.“ Er dachte nicht lange darüber nach, sondern sagte zu und ist geblieben. „Ich mußte irrsinnig arbeiten, denn ich hatte im ersten Jahr sechs Rollen zu lernen.“ Sein Repertoire in Lüneburg umfaßte von vornherein sowohl Opern- („bis Germont“), als auch Operetten- und Musicalpartien („‚Jesus Christ Superstar‘ und der Trapp in ‚The Sound of Music'“). „Das Schöne ist, daß man alles nebeneinander tun kann. Von Anfang an war dies das Interessante an der Stelle. Man suchte jemanden, der von Musical bis Oper in der Lage und bereit war, sich darauf einzulassen.“
„Ich habe gesehen, daß man an diesem Haus von den unterschiedlichen Kollegen sehr viel lernen kann.“ Er habe sich sehr offen gezeigt, um z.B. auch im Schauspiel eingesetzt zu werden. „Mich hat einfach interessiert und fasziniert, wie sich ein Schauspielensemble ein Stück erarbeitet. Das ist ein völlig anderer Ansatz.“ Er konnte dies verschiedentlich wiederholen „immer in den Klassiker natürlich und in kleinen Rollen“ und spielte u.a. im „Nathan“ und in „Romeo und Julia“. „Es waren kleine, aber feine Partien, die ich machen durfte. Das war hochinteressant für mich.“
Ein wichtiger Aspekt sei dabei gewesen, seine gut sitzende Sprechstimme facettenreich in der Art von Schauspielern nutzen zu können – „nicht vom sängerischen Ansatz her, sondern sich ganz normal seiner Technik bewußt zu sein, ohne sie so direkt zu benutzen. Natürlich muß man seine Sprechtechnik gelernt haben, um einen Dialog zu sprechen und gestalten. Aber das schönste Kompliment, das ich bekam, war bei einer Premierenfeier vom ‚Nathan‘. ‚Ach, Sie sind Sänger? Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Ja geht das denn…'“ Die Dame wurde zu einem Abonnenten des Musiktheaters in Lüneburg. Sie ging am nächsten Abend in eine Opernaufführung.
Vermutlich gründet sich in dieser Kombination aus Interesse am Spiel sowie dem sorgfältigen Herausarbeiten eines Charakters und den geschilderten praktischen Schauspielerfahrungen des Künstlers das, was eine Begegnung mit Ulrich Kratz auf der Bühne jedes Mal aufs Neue so interessant und spannend macht. Da ist mehr als „nur“ Gesang. Der Zuschauer sieht eine lebendige Figur, hinter der stets eine ausgereifte, komplex durchdachte Rolleninterpretation steht.
Aber auch während unseres Gesprächs ist er permanent in Bewegung, erzählt temperamentvoll, unterstreicht das Gesagte lebhaft mit raumgreifender Gestik – und man wird neidisch auf seine Schüler, die wichtigen Aspekte ihres Berufs so vermittelt bekommen. Was ist eigentlich wichtig für einen angehenden Sänger? „Wenn man bedenkt, daß ich ganz unterschiedliche Studenten vor mir habe – in Osnabrück habe ich andere Zielvorgaben als in Hannover, und wenn Leute mich privat ansprechen, gibt nochmals eine andere Zielvorgabe – orientiert sich dies immer daran, wo ein Student oder Schüler hinmöchte. Es wollen ja nicht alle auf die Oper- oder auf die Schauspielbühne, sondern z.T. möchten sie unterrichten, also Lehrer sein.“
„In Osnabrück habe ich einen rein auf das Musical angelegten Ausbildungsgang. Die meisten Schüler haben keine musikalischen oder schauspielerischen Voraussetzungen.“ In den drei oder vier Jahren der Ausbildung müsse man die Studenten dorthin bekommen, daß sie für eine Musical- oder Schauspielbühne interessant und gerüstet seien. Das sei nicht ganz einfach, räumt Ulrich Kratz ein. Die Zeit sei sehr knapp bemessen, und natürlich müsse neben der Grundlagenarbeit auch viel Repertoire aufgebaut werden.
„Und in Hannover ist es vielmehr eine Musikhochschule mit dem breiten Fächerangebot vom Bachelor in der Schulmusik bis hin zum Opernsänger, der ausgebildet werden soll oder angehende Kapellmeister, denen die Grundbegriffe des Singens vermittelt werden müssen.“ Das Schöne sei, wenn die erstmal verstanden hätten, wie toll das sei zu singen, wollten die gar nicht mehr aufhören…
„Für die Studenten und Schüler ist es wichtig, daß sie jemanden haben, der im Beruf steht. Das ist eine Besonderheit, die andere Lehrer, die ganz auf das Unterrichten gegangen sind, so nicht haben. Die haben andere Vorteile, aber bei mir orientieren sich die Schüler und Studenten natürlich auch sehr gerne an dem, was ich selber tue. Da kommt einer, der stand gestern abend noch auf der Bühne, jetzt steht der hier im Unterricht. Wie macht der das jetzt? Wie legt der das an? Kann der nach der tollen Vorstellung von gestern das heute einfach so vormachen?“ Nein, sagt der Sänger, das könne er nicht – er sei auch nur ein Mensch – aber er habe viele Möglichkeiten, jedem einzelnen einen Weg zu zeigen, der ihn in die Richtung führe, wo es weiter gehe. „Jedenfalls meistens.“
Gibt es Unterschiede in der Ausbildung an sich? „Die Musical Academy sagt natürlich, daß sie Leute ausbilden müssen, die sprechen, spielen, tanzen und singen können. Tatsächlich ist der Beruf des Musicaldarstellers ja so, aber auch der Beruf des Opernsängers ist heute auch nicht mehr so, daß man nur statisch agieren kann und eine schöne Stimme zeigt. Das reicht nicht mehr, es sei denn, man ist eine Ausnahmebegabung, bei der man sonst ‚nichts erwarten‘ würde.“ Spiel und Gesang seien eine Einheit geworden. Das Singen und das Musizieren auf den Bühnen sowie natürlich auch die Menschen, die in die Studiengänge hineingehen, hätten sich verändert.
Das Repertoire des Baritons besitzt auch heute eine große Bandbreite. Allein in der aktuellen Spielzeit singt er neben Papageno den Besenbinder Peter in „Hänsel und Gretel“, Mamm‘ Agata in Donizettis „Viva La mamma“ und Javert im Musical „Les Misérables“.
Bestehen Unterschiede in der Erarbeitung von Opern- und Musicalpartien? Am Anfang stehe auch bei Musicals wie „Les Misérables“ die musikalische Einstudierung. „Natürlich befaßt man sich dann auch mit dem Text, liest ihn dann nochmals rein von der Musik losgelöst. Man kann natürlich immer, ähnlich zu den Opernrollen, die Grundlage lesen. Worauf geht es eigentlich zurück?“ Dabei sehe man oft schon große Unterschiede, und selbstverständlich müsse man sich dann mit dem Regisseur z.B. darüber unterhalten, wie, in welchem Kontext und in welcher Zeit er die Rolle angelegt haben möchte.
„Im Grund genommen ist es, wenn es, von den zwei, drei Sprechtexten dazwischen einmal abgesehen, um eine sich rein vokal äußernde Rolle geht, eine musikalische Rolle und muß entsprechend musikalisch studiert werden.“ Allerdings bestünden in der Form wie eine Partie gebracht wird, wenn es um den Ausdruck geht, große Unterschiede. Stimmästhetisch, klangästhetisch gehe man natürlich anders damit um, ob man einen Mozart singe oder eben ein Schönberg-Musical.
Und von der Figur her? „Auch von der Figur her. Nun ist der Javert ja in der Nähe von anderen Typen, die man auf der Opernbühne singt.“ Ulrich Kratz verweist hier auf Gemeinsamkeiten zwischen Scarpia und Javert. Scarpia habe zwar eine andere Intension, „aber sie haben schon ein paar Dinge, die sie verbinden – z.B. dieses unabdingbare sich nur mit sich selbst Beschäftigen. Diese beiden sind eigentlich sehr einsame Typen – dazu geworden, durch ganz unterschiedliche Veranlagungen. Scarpia wird zum Sadisten und Machtmonopolisten. Javert spielt sich zum Richter auf, der sich gleich hinter Gott stellt. Dieses fast Autistische. Das haben sie beide.“
Javert sei ein Staatsdiener, ein gottesfürchtiger Mensch. „Als ich sein Lied zum erstenmal auf einer musikalischen Probe sang, dachte ich : ‚Mein Gott, wie kann ein Mensch denn wohl sein, der solche Sachen sagt. Nur wer gottesfürchtig lebt und sich nichts zu schulden kommen lässt, der darf in Frieden leben. Aber wer , aus welchen Gründen auch immer die kleinste Übertretung eines Gesetzes begangen hat, der gehört in den Knast und an den Pranger gestellt und hat kein Recht auf eine menschenwürdiges Leben.‘ Unglaublich. So kann man doch nicht sein, oder?. Doch, man kann. Und es ist herrlich, herauszufinden, wie diese Typen funktionieren. Da muß man sich schon sehr weit draufeinlassen.“
Wichtig sei ein Regisseur, mit dem er gut kooperieren könne, sagt Ulrich Kratz. „Ein Regisseur, der mir einen Spiegel vorhält. Ist der Regisseur nicht so sehr kritisch, wird es für mich eher schwierig. Ich probiere wahnsinnig gern aus. Da muß einem ein Regisseur schon mal helfen und sagen: ‚Mach‘ von dem lieber ein bißchen weniger. Oder diese Seite kannst Du noch mehr betonen‘.“ Generell versuche er, aus dem rein Musikalischen heraus auch schon eine Haltung für die Figur zu finden, aber nie so, daß man nicht noch gesprächsbereit sei, dies in einer Szene nicht auch in eine andere Richtung weiterzuentwickeln.
Der Bariton ist beim Publikum unglaublich beliebt. Erlebt man die Reaktionen nach den Vorstellungen in Lüneburg oder wirft man einen Blick in das Gästebuch auf der Website des dortigen Theaters, denkt man eher an Begeisterung für einen Popstar als an die (vorgeblich) vornehm ernste Würde eines Opernpublikums. „Das ist doch einfach toll“, sagt Ulrich Kratz und ergänzt, „Das Lüneburger Publikum hat natürlich seine Leute ins Herz geschlossen. Die sind ganz dicht an einem dran, und dementsprechend ist die Erwartungshaltung: ‚Ach, der ist dabei! Da freuen wir uns aber.‘.“ Es sei eine unheimlich positive Grundeinstellung, die dahinter stecke und einen Künstler auch über ein Stück tragen würde, bei dem er sich vielleicht nicht hundertprozentig sicher sei. Die positive Erwartungshaltung des Publikums entspanne.
Der Freundeskreis des Theaters Lüneburg hat Ulrich Kratz in im Jahr 2001 den Thespisring, mit dem herausragende Leistungen eines Mitgliedes des Theaterensembles gewürdigt werden, verliehen.
Gibt es Wunschpartien? „Na klar, da gibt es noch unglaublich viele tolle Rollen und wunderschöne Musik.“ Posa z.B. würde er wahnsinnig gern singen, Jago und Wolfram von Eschenbach, und er schwärmt sogleich noch von der Lüneburger „Holländer“-Produktion (2001), einer Inszenierung „mit viel Phantasie, und trotzdem wurden die Musik und die Rollen zum Tragen gebracht. Für mich war es herrlich, daß es gebracht wurde, weil ich mich natürlich in diesem Fach erproben konnte. Ich habe das sehr, sehr geliebt.“
Danach gefragt, was er auf gern aufnehmen würde, wenn er eine CD machen könnte, gibt der Bariton die spontane Antwort „Einen Arien-Querschnitt würde ich gern machen.“, um dann allerdings sofort zu ergänzen, „Das wäre die eine Seite. Die andere wäre ein Liederabend auf CD.“ Er bedauert sehr, daß er in den letzten Jahren zu wenig dazu komme, Liederabende zu machen. „Einen Schubert- oder einen Strauss-Liederabend würde ich gern aufnehmen.“ Mit dem Konzert am 9. April 2006 (u.a. Mahlers „Kindertotenlieder“) habe er eine gute Chance, auch das Liedprogramm wieder zu fokussieren.
„Das Musiktheater ist immer ein bißchen in die Größe genommen. Im Lied kann man so wunderbar auf kleinerem Raum so viele tolle Geschichten erzählen. Herrlich!“
Selten habe ich jemanden erlebt, der seine Begeisterung für die vielseitigen Aspekte seiner täglichen Arbeit so beeindruckend transportiert. Die Augen von Ulrich Kratz leuchten, wenn er feststellt: „Der Beruf ist ein sehr schöner, aber auch ein sehr schwerer.“ AHS