„That Day We Sang“ – 11. Januar 2014

Manchmal möchte man einfach im Theater gut unterhalten werden. Ich denke dabei an Unterhaltung, die ein gewisses Niveau besitzt, ohne daß gleich der moralische Zeigefinger erhoben wird, genauso wie an Spaß. Gefunden habe ich genau diese Mischung im Royal Exchange Theatre in Manchester.

Beeindruckend ist schon das Gebäude an sich. Die ehemalige Baumwollbörse, einst mit ihren drei Kuppeln der größte Saal der Welt, ist ein imposantes Zeugnis der industriellen Blütezeit Manchesters. Im 2. Weltkrieg schwer beschädigt, wurde das Gebäude in kleinerer Form wiederaufgebaut und bis 1968 als Börse genutzt. Danach stand es leer, war sogar vom Abriß bedroht, bis 1973 eine Theatergruppe die Räumlichkeiten bezog. Das Royal Exchange Theatre wurde schließlich 1976 gegründet.

Der eigentliche Theatersaal befindet sich in einem futuristisch anmutenden Gebilde aus Stahl und Glas, das sich überraschenderweise gut in die architektonisch so unterschiedliche ehemalige Börse einfügt. Die Spielfläche entspricht etwa der der Opera Stabile in Hamburg. Die Zuschauer folgen den Vorstellungen im Parket und zwei Rängen rundum diese Bühne plaziert. Man ist dicht dran am Geschehen.

Victoria Woods Stück beginnt als Geschichte vom Wiedersehen einiger ehemaliger Mitglieder des Manchester School Children’s Choir. Im Jahr 1929 hatte dieser Kinderchor Henry Purcells Bearbeitung von Thomas Shadwells „Nymphs and Shepherds“ mit großem Orchester und unter der Leitung von Sir Hamilton Harty für Columbia eingespielt. 40 Jahre später entschloß sich Granada Television im Rahmen einer Dokumentation über dieses Ereignis so viele Chormitglieder wie möglich erneut zusammenzubringen.

Soweit die Realität. Das Stück beginnt mit den Granada-Dreharbeiten. Hier begegnen sich auch Enid Sutcliffe und Tubby Baker das erste Mal wieder. Die Geschichte von der Reunion des Kinderchors wird Schritt für Schritt zur Geschichte der beiden Protagonisten, zu einer Liebesgeschichte.

Victoria Wood hat hierfür eine ausgewogene Komposition aus den beiden verschiedenen Zeitebenen (1929 und 1969) geschaffen. Oft wie in einem Kammerstück entwickeln sich die Beziehungen der Personen zueinander in kleinen Szenen und erst am Ende offenbart sich das komplette Bild. Text, Spiel, Musik und Gesang, sogar Tanz werden ganz selbstverständlich als Ausdrucksmittel genutzt. Eine Mischung, die perfekt harmoniert.

Das Ensemble, das sich für diese Aufführungsserie in Manchester zusammengefunden hat, ist großartig. Allen voran, die grandiose Anna FRANCOLINI, die Enids Charakter so facettenreich zeichnet, daß man die Figur umgehend ins Herz schließt. Höhepunkt ihrer Darbietung war die Szene in Enids Schlafzimmer, in der sie sich die Seele aus dem Leib tanzt, singt und spielt und so den Wünschen und Sehnsüchten des Charakters machtvoll Raum gibt. Die Emanzipation der Figur war liebevoll und vor allem glaubwürdig angelegt.

Dean ANDREWS stand seiner Partnerin hier in nichts nach. Hierzulande eher aus Fernsehserien bekannt, erweist er sich als für die Bühne geboren. Die ruhige, sehr durchdachte Charakterisierung von Tubby und dessen Entwicklung zeigt ein immenses schauspielerisches Können. In seinen Händen wächst die Figur ganz behutsam und mit ihr die Sympathie des Publikums. Es war schon schwer zu verstehen, daß Enid so lange blind für Tubbys Wesen und Gefühle geben kann. Zu dem komplett runden Spiel kommt eine warme, farbenreiche Gesangsstimme, deren Klangschönheit man auf in den ersten Blick vielleicht gar nicht vermuten würde.

Für sein Alter bereits unglaublich talentiert ist Alex STARKE. Sein Jimmy, Tubbys 1929er Ich, komplettiert die Darstellung seines erwachsenen Kollegen. Man hat keine Sekunde Zweifel daran, daß es sich um ein und dieselbe Persönlichkeit handelt. Die Stimme klang in jedem Moment sauber. Kein Kieksen war zu hören. Die Bühnenpräsenz ist ausgeprägt, aber trotz selbstbewußten Agierens keinen Augenblick lang aufdringlich. Eine ausgesprochen beeindruckende Leistung.

Sally BANKS und James QUINN zeigten mit Dorothy und Frank Brierley eine herrliche verschrobene Karikatur der englischen Mittelschicht der sechziger Jahre, so als wären sie geradewegs einem Film der Zeit entsprungen. Auch als Enids Freundin Pauline sowie deren Boss Mr. Stanley, zwei zu den zuerst genannten so unterschiedlichen Charakteren, wußten beide hundertprozentig zu überzeugen. Stets superb in der Artikulation war es ein Vergnügen beiden zuzuhören und zuzusehen.

Generell war die enorme Wandlungsfähigkeit ein großes Plus der gesamten Besetzung. Kelly PRICE, in der ersten Szene als Mandy so schrill, berührte als Chorleiterin Gertrude Riall, die Rasselbande mit Bestimmt- und Sanftheit gleichermaßen erfolgreich zu einem Klangkörper formt. Darren LAWRENCE bringt die gegensätzlichen Charaktere von Jimmys Vater, einem umherreisenden Musiker, und Sir Hamilton Harty mit viel Gespür für die Eigenheiten beider auf die Bühne.

Craige ELS hat als Mr. Kirkby beinahe javerteske Züge, erlaubte der Figur aber schlußendlich doch ein gutes Maß Menschlichkeit. Andy BRADY ist nicht nur, aber insbesondere ein begnadeter Tangotänzer. Auch Laura MEDFORTH (Jimmys Mutter, Kellnerin), Faye BROOKS (Edna, Ann, Kellnerin) und Aki OMOSHAYBI (Sound Man, Lionel, Kellner) trugen zu diesem fabelhaften Abend bei. Insbesondere die ihre großartige musikalische Darbietung in der Szene im Restaurant darf hier nicht unterschlagen werden.

Der Kinderchor zog den Zuhörer ob der Klangschönheit sofort in seinem Bann, und man hätte sich (trotz Humperdinck-Allergie) auch noch ein oder zwei weitere Male die englische Version „Brüderlein, komm tanz’ mit“ angehört.

Die musikalische Leitung des Abends oblag Ian TOWSEND, der dies ausgezeichnet meisterte und dazu auch Piano und Keyboard spielte. Seine Kollegen Andrew DALLIMORE (Trompete, Cornet, Flügelhorn), Elsie CHADD (Tenorhorn, Trompete), Mark MCLAUGHLIN (Euphonium, Posaune) und Richard WALDOCK (Baßgitarre, Kontrabaß) gaben mit ihm zusammen dem Abend einen erstklassigen musikalischen Rahmen, den auch ein größeres Orchester nicht besser hätte schaffen können.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Abend einfach Spaß gemacht und viel Lust auf mehr Brit-Theater geweckt hat. Wenn man für Oper und Musical weite Wege in Kauf nimmt, weshalb nicht auch fürs Sprechtheater.
AHS