Vor einem Jahr schrieben wir, daß ein „neuer“ Bariton immer neugierig macht. Zu dieser Zeit hatte Rodion Pogossov gerade in Hamburg als Posa im französischen „Don Carlos“ debütiert. Wir waren mit unserer
Begeisterung über die stimmlichen und schauspielerischen Fähigkeiten dieses russischen Sängers nicht allein. Das Publikum feierte seine Interpretation enthusiastisch.
Jetzt kehrte Rodion Pogossov für einige „Don Carlos“-Vorstellungen nach Hamburg zurück, was uns die Gelegenheit gab, ihm einige Fragen über seine Anfänge, seine Karriere und noch einige andere Dinge zu stellen.
In Moskau geboren war es nicht eine Laufbahn als Sänger, die er zunächst im Sinn hatte. „Ich wollte immer ein Schauspieler werden“, erzählt er uns. „Unsere Lehrer am Konservatorium waren Schauspieler, wir hatten Ballettstunden und Stimmübungen. Mein Lehrer entdeckte meine Stimme. Ich war erst sechzehn Jahre alt. In meiner ersten Stunde in der Schauspielklasse bat mein Lehrer mich etwas zu singen. Ich wußte nichts über klassische Musik, kannte nur die großen Namen Verdi, Mozart, etc. Ich sang das italienische Lied ‚Santa Lucia‘, das zu dieser Zeit sehr populär in Rußland war.“
Der Sänger gibt uns ein Beispiel, wie seine Stimme damals geklungen haben mag, mehr wie ein Knabensopran.
„Mein Lehrer versuchte mir zu erklären, was Singen eigentlich ist, wie man die Stimme stützt. Er sagte: ‚Kannst du es ein bißchen männlicher probieren?'“ Ein weiteres Gesangsbeispiel, das nicht wirklich besser
klingt. „Ich habe in dieser Weise gesungen. Es war wirklich komisch. Aber mein Lehrer hat einen unglaublichen Job gemacht. Nach zwei Jahren sang ich bereits als befände ich mich in einem Aufnahmestudio.“
Seinen Schlüsselmoment bezüglich der Oper war der Film „Amadeus“ von Milos Forman. „Ich habe begonnen, Oper und klassische Musik zu lieben, und entdeckte eine neue Welt für mich.“ Nachdem er zwei Wettbewerbe
gewonnen hatte, wuchs das Selbstvertrauen als Sänger. „Ich hatte gelernt zu schauspielern, weswegen also nicht beides kombinieren? Singen ist auch darstellen, es geht auch um den Charakter und das Drama. Ein
Schauspieler hat mehr Freiheiten, für einen Sänger geht es immer um den Fokus, Fokus auf die Stimme, die Technik, und wenn man Glück hat, vergißt man all dies und ist frei davon. Das lerne ich immer noch.“
Das erste, was beim Lesen des Lebenslaufes des Baritons verwundert, ist sein frühes Auftreten in Hauptrollen auf der Bühne der Metropolitan Opera in New York. Wie ist es zu dieser glücklichen Fügung gekommen?
„Ich war neunzehn, zwanzig Jahre alt. Ich war noch immer dabei alles über die Oper und wie man singt zu lernen.“ Er wußte, daß die Met ein Opernhaus ist, aber zur damaligen Zeit sprachen alle über die Scala als Ort, wo man hinmöchte. „Ich sang in einer Meisterklasse für Lenore Rosenberg, die Besetzungschefin der Met. Sie lud mich zu einem Vorsingen dort ein.“ Sein Lehrer riet ihm dringend der Einladung Folge zu leisten, aber der junge Sänger fühlte sich noch nicht bereit. Doch er ging schließlich tatsächlich nach New York. „Es war gar nicht so beängstigend. Ich hatte drei Vorsingen auf der Bühne für Maestro Levine,
und sie boten mir diesen Vertrag an. Schritt für Schritt während einer Zeitspanne von zweieinhalb Jahren begriff er, worum es in diesem Beruf geht. „Der Standard dort ist ziemlich hoch, und man setzt sich immer
sehr unter Druck, um diese Qualität zu erreichen.“
Es war eine bewußte Entscheidung des Baritons, dem sehr klassischen Pfad bei der Wahl seiner Rollen zu folgen. „Auch dank meiner Agentur in London habe ich Schritt für Schritt begonnen, denn ich war noch immer ein junger Sänger mit einer jungen Stimme.“ Baritonstimmen beginnen erst in einem bestimmten Alter aufzublühen. „Für mich fühlte es sich richtig an. Große Rollen, zu denen man noch nicht bereit ist, können einen für den Rest des Berufslebens ruinieren“, sagt er und fügt hinzu, „ich halte es für besser an kleineren Theatern zu beginnen, um das Selbstvertrauen und die Erfahrung zu gewinnen, worauf man dann aufbauen kann. Für mich persönlich ist das ein guter Weg.“
Rodion Pogossov bevorzugt längere Probenzeiten, bei denen es möglich ist, die Charaktere zu entwickeln und die Phantasie und Vorstellungskraft zu entdecken. Er mag auch Theaterexperimente wie in
der „Don Carlos“-Produktion in Hamburg, wenn diese von talentierten Leuten geschmackvoll umgesetzt werden. „Ich glaube, daß diese Produktion gut funktioniert, und ich sehe, daß im Publikum die Zuschauer schockiert sind“, erzählt der Bariton über das Autodafé, in dem Teile der Handlung in den Zuschauerraum verlegt sind. „Es ist verrückt, wie in einer Parallelwelt. Ich mag diese Art, wenn es nicht nur um ‚Rampensingen‘ geht. Es ist nah am Theater, aber es ist natürlich Oper, man darf die Musik nicht vergessen.“
Einer seiner nächsten Pläne ist die Titelrolle in „Eugen Onegin“ in Szczecin im März und April dieses Jahres. Er sei sehr glücklich, in seiner Muttersprache singen zu können. Onegin, den er bereits an der
Welsh National Opera in Cardiff gesungen hat, gehört neben Rossinis Figaro, Posa und Papageno zu seinen Lieblingsrollen. „Ich liebe diese Rolle. Unglücklicherweise bin ich körperlich kein Klischee-Onegin, groß
und blond, aber ich liebe diese Rolle. Ich mag es, weil es mich zu meinem Schauspielunterricht, wo wir wirklich an der Figur gearbeitet haben, zurückführt. Und dann ist da natürlich die unglaubliche Musik von
Tschaikowsky. Ich würde die Rolle liebend gern häufiger singen.“
Eine andere Rolle, die Rodion Pogossov in einigen Jahren gern singen würde, ist Hamlet in der gleichnamigen Oper von Ambroise Thomas. Er möchte in seinem Repertoire ein Gleichgewicht zwischen komischen und ernsten Partien bewahren. „Der Komponist schrieb diese Rolle in einer Weise, daß sie zu meinem Stimmtyp paßt. Und ich möchte meine Stimme nicht allein für Figaro, Papageno, etc. aufsparen, denn ich denke, daß ich auch ernsthafte Rollen singen kann.“ Eine Auffassung, die er mit seiner ausgezeichneten Interpretation von Verdis Posa bereits bewiesen hat.
Zusätzlich würde er gern Belcanto singen, beispielsweise Bellinis „I Puritani“ um mit seiner Stimme diesen Stil auszuprobieren.
Darüber hinaus sind da noch die großen Verdi-Rollen. Rodion Pogossov würde diese gerne singen, aber noch nicht jetzt. „Ich versuche, realistisch zu sein. Natürlich möchte ich diese Verdi-Rollen singen, aber derzeit wäre das verfrüht. Ich weiß noch nicht, wie sich meine Stimme entwickeln wird. Vielleicht in fünfzehn Jahren würde ich gerne drei, vier Verdi-Partien singen. Das wäre sehr schön.“
„Ich mag Verdi. Ihn zu singen, ist Balsam für die Stimme“, erklärt er und ergänzt schwärmerisch, „eines Tages Rigoletto.“ Auf der Liste von Wunschpartien stehen auch Valentin in Gounods „Faust“ und Jeletzky in
„Pique Dame“. „Kleine Rollen, ja“, er lacht, „aber mit unglaublichen Arien.“
Etwas, das sofort die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf sich zieht, nicht nur in unserem Gespräch mit Rodion Pogossov, sondern auch auf der Bühne ist die Lebhaftigkeit und Lebendigkeit, mit welcher er Situationen beschreibt und Figuren entwickelt. Beschenkt mit einem unglaublichen Sprachgefühl und Fertigkeiten von seiner Muttersprache über Englisch, Italienisch, Französisch bis zu auch Deutsch (seine Aussprache des Wortes „Zauberflöte“ klingt sehr deutsch), ist er in der Lage eine vollständige Bühnensituation vor dem Auge des Gegenübers entstehen zu lassen.
Von den gesanglichen Fähigkeiten in unterschiedlichen Sprachen kann man sich selbst auf einer im Jahre 2007 aufgenommenen CD überzeugen, auf welcher der Bariton Grieg, Cesti, Rachmaninov, Gluck, Mahler, Caldara, Tchaikovsky und Yeston singt.
Irgendwann in unserem Gespräch gesteht er: „Ich war immer eifersüchtig auf die Tenöre. Wie viele schön Arien und Partien die haben! Baritone sind normalerweise eifersüchtige alte Männer, deren Frau sie verlassen hat, oder sie mit dem Tenor zusammen ist…“ Die Gründe für diese Eifersucht mögen offenkundig sein, aber am Ende wäre es schade, wenn die Oper einen so exzellenten Bariton verlieren würde.
Die Vorbereitung neuer Rollen beginnt er normalerweise von der musikalischen Seite her. „Ich habe einen Pianisten in Moskau oder New York. Erst sehe ich mir die Partitur an. Wenn das Stück nicht in meiner
Muttersprache ist, übersetze ich es. Ich ziehe es vor, dies selbst zu tun. Wenn man das selbst macht, ist es keine wörtliche Übersetzung, aber es ist eine eigene. Das hilft auch beim Lernen sehr gut.“ Dann liest er die zugrunde liegende Geschichte, die Vorlage, und macht sich Gedanken über den Charakter, gefolgt vom Lernen und dem Einprägen der Musik. „Es ist immer zu wenig Zeit, und man macht es sehr schnell. Ich erinnere eine Zeit, wo ich das Gefühl hatte, zehn Tage nonstop zu lernen. Man schläft mit der Musik, man wacht auf mit der Musik, man ißt mit der Musik.“
Apropos Musik, der Sänger erzählt, daß er derzeit außerhalb der Bühne Musik z.B. von Lily Allen oder Jazz bevorzuge. Er gibt allerdings zu, daß er als Teenager ein großer Nirvana-Fan gewesen sei. „Als ich
fünfzehn Jahre alt war, habe ich Nirvana sehr gemocht, aber wenn ich das heute höre, werde ich traurig.“
Am Ende unseres Gespräches sagt Rodion Pogossov: „Ich wäre begeistert, wenn die Menschen mehr die klassische Musik entdecken und mehr darauf achten würden, was wir daran haben. Sie sollten die klassische Musik nicht wie ein Museumsstück betrachten. Ich bin noch immer ein junger Mensch, und ich habe mit Nirvana angefangen. Man muß neugierig sein. Zufällig habe ich diesen Milos Forman-Film gesehen, und der hat mein Leben geändert. Ich wünsche mir daher, daß die Menschen neugieriger auf klassische Musik wären.“
Seiner Meinung nach sind vorrangig die Familien und Schulen für das Wecken dieser Neugier besonders in jungen Menschen verantwortlich. Gefragt danach, was die Opernhäuser tun könnten, um mehr junge Zuschauer
zu gewinnen, schlägt er vor: „Vielleicht ist es idealistisch, aber wenn es auf eine ehrliche Weise gemacht wird, eine gute Produktion ohne viel Drumherum, berührt sie. Es dringt dann mit der Musik direkt ins Herz vor. Die Musik ist da sehr stark.“
„Ich wünschte, die Menschen würden sich mehr um diese Dinge kümmern, die zum Aufbau der Seele und der Persönlichkeit gehören. Ich glaube, daß es ohne diese Dinge hart ist zu reifen und eine interessante Person zu sein oder sich als Mensch zu entwickeln.“
Dem ist unserer Meinung nichts hinzuzufügen.
MK & AHS (Februar 2013)