Dieses
zweite Auftragswerk der Pariser Oper des jungen Komponisten Bruno Mantovani-
nach dem Ballett "Siddharta" 2010 - besticht selbst bei einmaligem Zuhören,
nicht nur wegen des sehr packenden Themas des Lebens der außergewöhnlichen
Personalität der russischen Dichterin Anna Akhmatova (siehe Anhang), sondern
vor allem musikalisch. Das Werk ist selbst für Nicht-Spezialisten durchaus
zugänglich. Bruno Mantovani verwendet zwar die für die heutige Musik charakteristischen
Cluster und Ballungen - er hat immerhin ein paar Jahre am IRCAM verbracht,
doch der Großteil der Ballungen ist eben tonal und die Auflösungen der
Cluster gehen über Dreiklang und Septakkorde selten hinaus und führen
meist zu sehr lyrischen, arienhaften Monologen, Duetten und Sänger-Ensembles.
Die gewagtesten Akkorde hätten auch Mahler, Strauss, Janácek, Bartok oder
Hindemith nicht abgelehnt. Außerdem ist das Libretto von Christophe Ghristi,
Dramaturg an der Pariser Oper und langjähriger Bewunderer der russischen
Dichterin, von großer Dichte und sehr gut aufgebaut.
Diese
Künstler-Oper ist in der direkten Nachfolge von Berlioz' "Benvenuto Cellini"
und Hindemiths "Mathis der Maler". Die Dramatik der Situationen und der
Rahmen dieser geistigen Wüste der UdSSR, die Schikanen eines Jdanovs und
die Flucht in ein "internes Asyl" und der Widerstand der Titelheldin,
sowie der Bruch mit ihrem einzigen Sohn Lev sind meisterhaft gezeichnet.
Ein Vorwurf könnte vielleicht dem Librettisten gemacht werden, daß er
sich zu viel vorgenommen hat. Anna Akhmatova ist eine Roman-Figur, ihr
Leben und Werk ein tragischer, epischer Vorwurf, obwohl es an dramatischen
Szenen nicht mangelt. Der schematische Lebenslauf Akhmatovas im Programmbuch
ist in Kleindruck vierzehn Seiten lang! Für große Roman-Schriftsteller
vom Kaliber eines Tolstoi, Hugo oder Mann wäre Akhmatova eine Idealfigur!
Man fühlt aber, daß Komponist und Librettist hier intensiv Hand in Hand
zusammen gearbeitet haben. Etwas befremdend war die Tatsache, daß die
beiden Hauptrollen dieser in französischer Sprache geschriebenen Oper
von der deutschen Mezzo-Sopranistin Janina BAECHLE (Akhmatova) und dem
ungarischen Tenor Attila KISS-B (Lev) gesungen wurden - übrigens beide
ausgezeichnet. Haben französische Sänger kein Interesse an neuen Werken?
Die
Inszenierung hat der Hausherr und Auftraggeber des Werks, Nicolas JOEL,
persönlich übernommen. Er hat dazu Wolfgang GUSSMANN, seinen langjährigen
Mitstreiter, mit dem er bereits mehrmals in Toulouse zusammen gearbeitet
hatte, für Bühnenbild und Kostüme gewonnen. Das Resultat ist erschütternd
und bestechend gleichzeitig, minimalistisch und ganz in schwarz, weiß
und grau gehalten. Es ist der Rahmen dieser russischen Tragödie, und nur
in der Szene im Exil in Taschkent ist die Schauspielerin Faina Ranevskaia
rot gekleidet. Vor dem fast ständig sichtbaren dominierenden schwarz-weißen
Gemälde von Amedeo Modigliani von Akhmatova (das auch für das Plakat und
den Umschlag des Programm-Buchs diente), sitzt oder bewegt sich die alternde
Dichterin und grübelt, deklamiert oder kommentiert die meist tragischen
Ereignisse. Zu Beginn vervielfacht sich das Gemälde, umringt sie und ruft
ihr die glorreiche Zeit ihrer Jugend zurück. Die ganze Misere der sowjetischen
Gesellschaft zeigt sich in der Wohngemeinschaft, in der Akhmatova, ihr
Sohn Lev Gumilev, ihr 2. Ex-Gatte Nikolai Punin, dessen Lebensgefährtin
Olga und andere hausen. Der Auftritt der GPU-Schergen, die Lev verhaften,
ist durch seine Einheitlichkeit - graue Mäntel, schwarze Schlapphüte -
höchst symbolisch.
Die
Szenen werden nicht durch das Fallen des Vorhangs getrennt, sondern durch
Verschiebung von riesigen schwarzen Wänden, die von rechts oder links
eingeschoben werden, was nicht nur sehr eindrucksvoll ist, sondern auch
ermöglicht, während der Aktion auf offener Bühne hinter den verdeckten
Teilen die Versatzstücke aufzubauen. Ebenso beeindruckend war der sehr
einfach dargestellte Zug, der 1942 die Evakuierung der Leningrader Intelligentia
als piano-Chor auf Bänken zeigt, hinter dem die nächtliche Landschaft
projiziert wird. Die düstere Beleuchtung von Hans TOELSTEDE betonte diese
allgemein bedrückende, von Spitzeln bevölkerte Atmosphäre. Mit Pascal
ROPHÉ stand ein Spezialist zeitgenössischer Musik am Pult des ORCHESTRE
DE L'OPÉRA DE PARIS. Man kann natürlich hier kein Werturteil über sein
Dirigat machen, sondern nur feststellen, daß Rophé die neue Partitur derart
beherrschte, daß er den Sängern mit großer Umsicht ständig die Einsätze
gab. Patrick Marie AUBERT leitete die oft sehr schwierigen CHÖRE mit Maestria
- wie den piano-Chor im Flüchtlingszug nach Taschkent.
In
der Titelrolle der Anna Akhmatova war Janina Baechle einfach erschütternd.
Die noch junge Sängerin gab der alternden, verfolgten Dichterin eine fast
unheimliche Darstellung, mit ihrem prachtvollen Mezzosopran und in perfektem
Französisch. Großartig! Ihren einzigen Sohn Lev Gumilev stellte Attila
Kiss-B. dar, der im Gulag nach Sibirien verbannt war, Am Schluß der Oper
wirft er seiner Mutter in einer höchst dramatischen Auseinandersetzung
ihren fehlenden Einsatz für seine Befreiung vor. Der ungarische Tenor
drückte dabei sehr überzeugend die ganze Tragik des Sowjet-Regimes aus.
Vielleicht weil er oder ein Familienmitglied dieses Schicksal am eigenen
Leib erlebt haben?
Die
weiteren Rollen sind zwar durchwegs sekundär, aber gut gezeichnet. Vor
allem stellten die Sänger die Rollen sehr glaubhaft dar. Nikolai Punin,
bedeutender Kunsthistoriker und 2. Gatte der Dichterin, war Lionel PEINTRE,
der Lev im verwüsteten Leningrad warnt zu glauben, daß mit dem Ende des
Kriegs das Regime Stalins sich bessern würde. Die zwei Freundinnen Akhmatovas,
die Schriftstellerin Lydia Tchukovskaia und die Schauspielerin Faina Ranevskaia,
wurden sehr treffend von Varduhi ABRAHAMYAN und Valerie CONDOLUCI gestaltet.
Christophe DUMAUX war als Vertreter des Schriftstellerverbands ein typisches
zynisches Sowjet-Subjekt, wenn er versucht Akhmatova unveröffentlichte
Gedichte herauszulocken.
Wenn
zu Beginn der Oper Akhmatova glaubt, daß ihre Wohnung wieder einmal von
der GPU durchsucht worden sei und Krach macht, erscheint Marie-Adeline
HENRY als Olga und wirft ihr vor, das ganze Haus zu wecken. Als drei englische
Universitätsprofessoren (Fabrice DALIS, Paul CRÉMAZY, Vladimir KAPSHUK)
Akhmatova besuchen, um sie zu interviewen, sagt sie ihnen, das Genosse
Stalin völlig recht habe, sie zu verfolgen. Die drei ziehen kopfschüttelnd
ab und halten sie für verrückt - eine groteske Szene in der allgemeinen
Grauheit. Fabrice Dalis war auch der Bildhauer in der Szene mit Faina
in Taschkent, während die beiden letzteren Sänger auch die als Studenten
verkleideten GPU Spitzel waren.
Das
neue Werk wurde vom Publikum enthusiastisch aufgenommen und feierte alle
Künstler und besonders den Komponisten und Librettisten triumphal. wig.
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