"AKHMATOVA " - 2. April 2011 (Uraufführung)

Dieses zweite Auftragswerk der Pariser Oper des jungen Komponisten Bruno Mantovani- nach dem Ballett "Siddharta" 2010 - besticht selbst bei einmaligem Zuhören, nicht nur wegen des sehr packenden Themas des Lebens der außergewöhnlichen Personalität der russischen Dichterin Anna Akhmatova (siehe Anhang), sondern vor allem musikalisch. Das Werk ist selbst für Nicht-Spezialisten durchaus zugänglich. Bruno Mantovani verwendet zwar die für die heutige Musik charakteristischen Cluster und Ballungen - er hat immerhin ein paar Jahre am IRCAM verbracht, doch der Großteil der Ballungen ist eben tonal und die Auflösungen der Cluster gehen über Dreiklang und Septakkorde selten hinaus und führen meist zu sehr lyrischen, arienhaften Monologen, Duetten und Sänger-Ensembles. Die gewagtesten Akkorde hätten auch Mahler, Strauss, Janácek, Bartok oder Hindemith nicht abgelehnt. Außerdem ist das Libretto von Christophe Ghristi, Dramaturg an der Pariser Oper und langjähriger Bewunderer der russischen Dichterin, von großer Dichte und sehr gut aufgebaut.

Diese Künstler-Oper ist in der direkten Nachfolge von Berlioz' "Benvenuto Cellini" und Hindemiths "Mathis der Maler". Die Dramatik der Situationen und der Rahmen dieser geistigen Wüste der UdSSR, die Schikanen eines Jdanovs und die Flucht in ein "internes Asyl" und der Widerstand der Titelheldin, sowie der Bruch mit ihrem einzigen Sohn Lev sind meisterhaft gezeichnet. Ein Vorwurf könnte vielleicht dem Librettisten gemacht werden, daß er sich zu viel vorgenommen hat. Anna Akhmatova ist eine Roman-Figur, ihr Leben und Werk ein tragischer, epischer Vorwurf, obwohl es an dramatischen Szenen nicht mangelt. Der schematische Lebenslauf Akhmatovas im Programmbuch ist in Kleindruck vierzehn Seiten lang! Für große Roman-Schriftsteller vom Kaliber eines Tolstoi, Hugo oder Mann wäre Akhmatova eine Idealfigur! Man fühlt aber, daß Komponist und Librettist hier intensiv Hand in Hand zusammen gearbeitet haben. Etwas befremdend war die Tatsache, daß die beiden Hauptrollen dieser in französischer Sprache geschriebenen Oper von der deutschen Mezzo-Sopranistin Janina BAECHLE (Akhmatova) und dem ungarischen Tenor Attila KISS-B (Lev) gesungen wurden - übrigens beide ausgezeichnet. Haben französische Sänger kein Interesse an neuen Werken?

Die Inszenierung hat der Hausherr und Auftraggeber des Werks, Nicolas JOEL, persönlich übernommen. Er hat dazu Wolfgang GUSSMANN, seinen langjährigen Mitstreiter, mit dem er bereits mehrmals in Toulouse zusammen gearbeitet hatte, für Bühnenbild und Kostüme gewonnen. Das Resultat ist erschütternd und bestechend gleichzeitig, minimalistisch und ganz in schwarz, weiß und grau gehalten. Es ist der Rahmen dieser russischen Tragödie, und nur in der Szene im Exil in Taschkent ist die Schauspielerin Faina Ranevskaia rot gekleidet. Vor dem fast ständig sichtbaren dominierenden schwarz-weißen Gemälde von Amedeo Modigliani von Akhmatova (das auch für das Plakat und den Umschlag des Programm-Buchs diente), sitzt oder bewegt sich die alternde Dichterin und grübelt, deklamiert oder kommentiert die meist tragischen Ereignisse. Zu Beginn vervielfacht sich das Gemälde, umringt sie und ruft ihr die glorreiche Zeit ihrer Jugend zurück. Die ganze Misere der sowjetischen Gesellschaft zeigt sich in der Wohngemeinschaft, in der Akhmatova, ihr Sohn Lev Gumilev, ihr 2. Ex-Gatte Nikolai Punin, dessen Lebensgefährtin Olga und andere hausen. Der Auftritt der GPU-Schergen, die Lev verhaften, ist durch seine Einheitlichkeit - graue Mäntel, schwarze Schlapphüte - höchst symbolisch.

Die Szenen werden nicht durch das Fallen des Vorhangs getrennt, sondern durch Verschiebung von riesigen schwarzen Wänden, die von rechts oder links eingeschoben werden, was nicht nur sehr eindrucksvoll ist, sondern auch ermöglicht, während der Aktion auf offener Bühne hinter den verdeckten Teilen die Versatzstücke aufzubauen. Ebenso beeindruckend war der sehr einfach dargestellte Zug, der 1942 die Evakuierung der Leningrader Intelligentia als piano-Chor auf Bänken zeigt, hinter dem die nächtliche Landschaft projiziert wird. Die düstere Beleuchtung von Hans TOELSTEDE betonte diese allgemein bedrückende, von Spitzeln bevölkerte Atmosphäre. Mit Pascal ROPHÉ stand ein Spezialist zeitgenössischer Musik am Pult des ORCHESTRE DE L'OPÉRA DE PARIS. Man kann natürlich hier kein Werturteil über sein Dirigat machen, sondern nur feststellen, daß Rophé die neue Partitur derart beherrschte, daß er den Sängern mit großer Umsicht ständig die Einsätze gab. Patrick Marie AUBERT leitete die oft sehr schwierigen CHÖRE mit Maestria - wie den piano-Chor im Flüchtlingszug nach Taschkent.

In der Titelrolle der Anna Akhmatova war Janina Baechle einfach erschütternd. Die noch junge Sängerin gab der alternden, verfolgten Dichterin eine fast unheimliche Darstellung, mit ihrem prachtvollen Mezzosopran und in perfektem Französisch. Großartig! Ihren einzigen Sohn Lev Gumilev stellte Attila Kiss-B. dar, der im Gulag nach Sibirien verbannt war, Am Schluß der Oper wirft er seiner Mutter in einer höchst dramatischen Auseinandersetzung ihren fehlenden Einsatz für seine Befreiung vor. Der ungarische Tenor drückte dabei sehr überzeugend die ganze Tragik des Sowjet-Regimes aus. Vielleicht weil er oder ein Familienmitglied dieses Schicksal am eigenen Leib erlebt haben?

Die weiteren Rollen sind zwar durchwegs sekundär, aber gut gezeichnet. Vor allem stellten die Sänger die Rollen sehr glaubhaft dar. Nikolai Punin, bedeutender Kunsthistoriker und 2. Gatte der Dichterin, war Lionel PEINTRE, der Lev im verwüsteten Leningrad warnt zu glauben, daß mit dem Ende des Kriegs das Regime Stalins sich bessern würde. Die zwei Freundinnen Akhmatovas, die Schriftstellerin Lydia Tchukovskaia und die Schauspielerin Faina Ranevskaia, wurden sehr treffend von Varduhi ABRAHAMYAN und Valerie CONDOLUCI gestaltet. Christophe DUMAUX war als Vertreter des Schriftstellerverbands ein typisches zynisches Sowjet-Subjekt, wenn er versucht Akhmatova unveröffentlichte Gedichte herauszulocken.

Wenn zu Beginn der Oper Akhmatova glaubt, daß ihre Wohnung wieder einmal von der GPU durchsucht worden sei und Krach macht, erscheint Marie-Adeline HENRY als Olga und wirft ihr vor, das ganze Haus zu wecken. Als drei englische Universitätsprofessoren (Fabrice DALIS, Paul CRÉMAZY, Vladimir KAPSHUK) Akhmatova besuchen, um sie zu interviewen, sagt sie ihnen, das Genosse Stalin völlig recht habe, sie zu verfolgen. Die drei ziehen kopfschüttelnd ab und halten sie für verrückt - eine groteske Szene in der allgemeinen Grauheit. Fabrice Dalis war auch der Bildhauer in der Szene mit Faina in Taschkent, während die beiden letzteren Sänger auch die als Studenten verkleideten GPU Spitzel waren.

Das neue Werk wurde vom Publikum enthusiastisch aufgenommen und feierte alle Künstler und besonders den Komponisten und Librettisten triumphal. wig.

Kurzbiographien