Beethoven
"An die ferne Geliebte", Schumann "Fantasie" op. 17 und "Dichterliebe"
(SAPHIR Productions)
Gilles
RAGON ist einer der ungewöhnlichsten Vertreter der heutigen Sänger-Generation,
denn er singt, nicht weil er damit Geld verdient, sondern weil es ihm
Spaß macht. weil er musikalischen Appetit hat - und singen muß! Er gehört
auch zu der ganz seltenen Rasse französischer Sänger, die sich ins deutsche
Repertoire gewagt haben. Vor fünfzig Jahren war es Gérard Souzay, der
weltweit Schumanns "Dichterliebe" oder Schuberts "Winterreise" mit stupendem
Erfolg gesungen hat. Vor Souzay war es nur Charles Panzéra, der deutsche
Vokalmusik überhaupt gesungen hat.
Dank
seiner außergewöhnlichen Musikalität, begann Ragon vor über zwanzig Jahren
in der Barockmusik und hat Dutzende Rolle gesungen und aufgenommen. Seit
2000 hat er sich immer mehr dem klassischen und romantischen Repertoire
zugewendet und sich selbst in die Moderne gewagt (kürzlich Uraufführung
von "Faust" von Fénélon in Toulouse und Paris-Bastille). Seine Vielseitigkeit
zeigte er in "Così", als Comte d'Ory, Werther, Loge, Pelléas, Tannhäuser
und in zahlreichen Raritäten wie die total vergessene Oper "L'attaque
du Moulin" von Alfred Bruneau in Metz oder als Raoul in Meyerbeers "Les
Huguenots" in Lüttich, aber auch als Gaillardin (Eisenstein in der französischen
Fassung der "Fledermaus") in Bordeaux.
Seit
etwa zwei Jahren hat Gilles Raon mit seinem Begleiter Jean-Louis Haguenauer
ein Konzert als eine Art "Akademie" - wie zu Mozarts oder Beethovens Zeiten
- zusammengestellt, eine Form, die derzeit in der französischen Kammermusik-Szene
sehr beliebt ist. Die beiden Künstler sind an vielen Orten aufgetreten,
in französischen Sommerfestivals und Konzertsälen (Châtelet, Bastille-Studio),
aber auch in Los Angeles. Die Einspielung dieser "Akademie" stammt aus
dem Auditorium Rolf Liebermann der Bastille-Oper.
Das
Bestechende an dieser Aufnahme ist nicht nur die Musikalität und Phrasierung
des Tenors, sondern die hörbare Auseinandersetzung mit dem Text und der
Sprache. Besonders überraschend ist die vorbildliche Wortdeutlichkeit
des Sängers. Es ist selten, daß man in einer Aufnahme jedes Wort versteht.
Aloys
Jeitteles etwas kitschigen Texte für Beethovens sechs Lieder "An die ferne
Geliebte" op. 98 sind fröhlich oder traurig, aber Ragon singt sie immer
ungewöhnlich präzise. Daß die Lieder durch-komponiert sind und keine Pause
dazwischen ist, kompliziert die Sache etwas, zumal Beethoven in jedem
Lied die Tonart und das Tempo ändert.
Die
literarisch viel tiefer gehenden Texte von Heinrich Heine der "Dichterliebe"
sind 16 kurze und aphoristische Gedichte, die Ragon mit Ausdruck, Intensität
und großer Intelligenz interpretiert. Hier zeigt der Tenor seine ganze
Kunst, denn manche Lieder sind sehr tief gesetzt ("Im Rhein, im heil'gen
Strome"), andere gehen über größere Intervalle ("Ich grolle nicht" oder
"Ich hab im Traum geweinet"). Er meistert mit seiner Wortdeutlichkeit
und seiner fabelhaften Phrasierung alle Hürden der Partitur. Mit seinem
hellen, aber sehr kraftvollen Tenor muß man unweigerlich an Erb, Patzak,
Haefliger oder Gedda denken, deren Nachfolger Gilles Ragon ganz offenbar
ist.
Besonderes
Lob verdient der Begleiter, Jean-Louis Haguenauer, der nicht nur begleitet,
sondern mit dem Sänger sehr feinfühlig musiziert, in ganz besonders subtiler
und durchsichtiger Art, immer dem Sänger den Vorrang lassend.
Zwischen
den beiden Liederzyklen spielt Haguenauer die sehr komplexe "Fantasie"
op. 17 von Schumann. Wenn man die Noten vor sich hat, fragt man sich,
wie ein Mensch so etwas mit zwei Händen spielen kann, denn die Stellen,
wo gleichzeitig acht Tasten angeschlagen werden müssen, sind Legion! Selten
hat man dieses äußerst schwierige Stück so durchsichtig und klar gehört.
Ein
wunderschönes Konzert! Sehr zu empfehlen. wig.
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