So
langsam könnte man auf die Idee kommen, daß es strafbar ist, "Aus einem
Totenhaus" dort spielen zu lassen, wo es der Komponist eigentlich haben
wollte…
Eigentlich
ist der Grundgedanke von Peter KONWITSCHNIYs Inszenierung gar nicht mal
so schlecht. Laut Interview mit Konwitschny und Metzmacher im Programmheft
kann das eigentliche Sujet der Oper nicht mehr berühren, weil es Vergangenheit
ist, und außerdem die meisten Zuschauer nicht betrifft. Meine eigene Meinung
dazu wäre zwar, daß eine Oper auch durch ihre Musik in der Lage sein sollte
zu berühren, aber das ist nicht mal mein Hauptproblem mit der Inszenierung.
Viel mehr stört mich, was an die Stelle der sibirischen Katorga getreten
ist: Eine Mafia-Party. Denn auch "die Mafia [ist] eine Art Gefängnis",
aus dem man nicht mehr rauskommt. Die Mafia ist zwar im Gegensatz zu Dostojewskis
Gefängnis noch Realität, aber betrifft sie mich deswegen mehr?
Ingo
METZMACHER (musikalische Leitung) sagt in dem erwähnten Interview, daß
eine Aufführung von "Aus einem Totenhaus" "[ihn] als Zuschauer nicht erreicht
[hat], weil es [ihn] nicht betrifft". Die meisten Zuschauer dürften genauso
wenig Bezug zur Mafia wie zur Katorga haben, und daher betrifft mich Konwitschnys
Neuerfindung genauso wenig; auch gelingt es ihr nicht, mir einen ernst
zu nehmenden moralischen Zeigefinger zu zeigen, was scheinbar auch zu
Konwitschnys Vorhaben gehört. Er kritisiert den Sicherheitsabstand, den
man grundsätzlich zu einem historischen Thema hat. Aber wie viel größer
ist der Sicherheitsabstand des durchschnittlichen Opernbesuchers zu einer
kriminellen Organisation… "Die Welt ist doch eigentlich ein Gefängnis"
soll Metzmacher gesagt haben. Aus diesem Gedanken kann man doch sicher
etwas Sinnvolleres machen, zu dem die Zuschauer einen tatsächlichen Bezug
haben…
Zusätzlich
zum Interview gibt es auch noch ein Video, in dem Konwitschny seine Inszenierung
erklärt. Daß sie es nötig hat erklärt zu werden, ist allein schon kein
Qualitätsmerkmal; daß aber Konwitschny nicht in der Lage ist, sie uns
tatsächlich verständlich zu machen, ist noch schlimmer. Peinlich ist fast
schon, daß er hier Brecht zitiert, der zu solchen Modernisierungen sagte:
"Man darf es, wenn man es kann." Die freundliche Art darauf zu reagieren,
wäre Konwitschny daran zu erinnern, daß er nicht Brecht ist.
Das
Ganze spielt im 44. Stock eines Hochhauses (Bühne: Johannes LEIACKER)
auf der erwähnten Mafia-Party. Alexander Petrovic Goryancikov ist offensichtlich
ein neues Mafia-Mitglied und wird, scheinbar im Rahmen eines Initiationsrituals,
gedemütigt und verprügelt. Seltsamerweise hält der neue Ort des Geschehens
ihn nicht davon ab, sich als politischen Gefangenen zu bezeichnen, was
für die ersten Fragezeichen über meinem Kopf sorgte. Skuratov führt seinen
wilden Tanz bis ins Publikum fort, wo er eine Dame in der ersten Reihe
zum Tanzen auffordert, bis sie und ihr Ehemann empört den Saal verlassen.
Luka Kuzmic erzählt seine Geschichte im Kokainrausch, nachdem er Aljeja
ein Päckchen Koks in dem nun als "Aljeja, gib mir Stoff" bekannten Stücks
abgekauft hat. Goryancikov will Aljeja lesen beibringen. Dieser findet
das "mega".
Für
die Feier wird eine kleine Bühne aufgebaut, Sträflingsjacken und Handschellen
werden verteilt, denn das ist bei der Mafia das korrekte Kostüm (ebenfalls
Leiacker) für eine Party. Die auf deutsch angekündigte "Oper von Don Giovanni"
lief auf das Vorstellen einiger leichter Mädchen hinaus. Diese verlassen
später den Raum, ohne daß weiter etwas passiert, und wohl aus Enttäuschung
darüber beginnt der große Streit. Wenig später sitzen also alle mit diversen
Verbänden da, und wir erfahren von Aljeja, daß Jesus ein "cooler Typ"
war. Luka leidet unter Entzug, und Šiškov erkennt seinen Rivalen Filka
Morozov nicht in ihm. Der Mafiaboss tritt ein, läßt Goryancikov in eine
riesige Matrjoschka setzen, verkündet ihm höhnisch er sei frei und erschießt
ihn. Aljeja bleibt mit der Leiche allein zurück.
Wenn
man schon beschließt, daß einem die ursprüngliche Handlung der Oper so
was von egal ist, dann sollte man das wenigstens konsequent durchziehen.
Ich meine damit die Texte. Nicht eine Silbe ist an den tschechischen Texten
geändert worden. Dafür gibt es für gerade mal die Hälfte der Texte überhaupt
Übertitel, und diese reichen von seltsamen bis zu schlichtweg falschen
Übersetzungen. Vulgär- und Jugendsprache sind reichlich vorhanden, und
während Ersteres nicht mal so fehlt am Platze wirkt, finde ich, dass Worte
wie "okay" und "cool" einfach nichts in einer Oper zu suchen haben. Das
Ganze ist übrigens eher amüsant für den textkundigen Zuschauer. Die heutige
Tschechisch-Lektion: Die korrekte Übersetzung von "Vaše blahorodí" (Euer
Hochwohlgeboren) ist: "Du Wichser!" Und als fast schon eine Frechheit
betrachte ich es, daß die im Programmheft abgedruckte, immer noch fehlerhafte
Übersetzung (wenn dies auch inhaltlich wenig relevant ist), als "wörtlich"
bezeichnet wird.
Die
einzige Sache an der Inszenierung, die mir wirklich gefallen hat, ist
das häufige Durchbrechen der vierten Wand. Mehrmals befinden sich Sänger
im Zuschauerraum oder interagieren mit einzelnen Zuschauern. Besonders
gut gefallen hat mir, daß Luka zum Ende des ersten Akts allein auf der
Bühne bleibt, und der Chor sich um den Zuschauerraum herum aufstellt.
Der
Hauptgrund, daß es mir trotz allem nicht allzu Leid tut in Zürich gewesen
zu sein, war die Qualität der Musik. Ingo Metzmacher mag den Regisseur
auf dumme Gedanken gebracht haben; für sein Dirigat verzeih ich ihm vieles.
Das ORCHESTER klingt glasklar und spielt sehr stark akzentuiert. Es gelingt
auch sehr gut, an den entscheidenden Stellen eine starke Spannung aufzubauen.
Wenn Metzmacher die Oper nicht berührt, so hat seine Art, sie zu spielen
wenigstens dafür gesorgt, daß sie mich trotz Mafia-Party berührt hat.
Der
CHOR unter Ernst RAFFELSBERGER kann hier leider nicht ganz mithalten,
hat aber auch weniger Gelegenheit dazu.
Dieter
SUTTHEIMER erinnerte als der alte "Sträfling" noch am ehesten an Vito
Corleone, fiel aber sängerisch nicht weiter auf. Letzteres gilt auch für
Boguslaw BIDZINSKIs Cerevin. Raimund WIEDERKEHR spielte als Šapkin ausschließlich
den Clown und sang leider auch hin und wieder so, daß der komische Effekt
größer war als der musikalische Genuß.
Morgan
MOODY (der kleine "Sträfling") und Pablo Ricardo BEMSCH (der junge "Sträfling")
lassen sich unter "Stimme zu tief für die Rolle" zusammenfassen, ebenso
wie Krešimir STRAŽANAC (Cekunov) und Thomas TATZL (Don Juan) in die Kategorie
"Stimme zu hoch für die Rolle" fallen.
Die
größte Enttäuschung des Abends geht aber an Ilker ARCAYÜREK als Aljeja.
Meistens ging er völlig im Orchester unter und wenn nicht, dann sang er
undeutlich und kraftlos. Sein Schauspiel war überzeugender, aber heftig
übertrieben.
Unter
den ganz kleinen Rollen fiel eigentlich nur Simon WALLFISCH als der betrunkene
"Sträfling" positiv auf, der immer wieder in verschiedenen Logen auftauchte
und schließlich Programmheftschnipsel auf das Publikum regnen ließ. Ob
er das auch für "alles Lüge" hielt?
Zweigeteilt
ist meine Meinung über den, im Programmheft als "Kommandant" bezeichneten,
Mafiaboss Pavel DANILUK. Im ersten Akt war er so unauffällig, daß er neben
Goryancikov mehr als gar nicht zu bemerken war; im dritten Akt dagegen
hatten sich die Verhältnisse umgedreht. Leicht lallend, aber dennoch kräftig
und gegen Ende ironisch gelang es ihm auch sich gegen das Orchester zu
behaupten. Hoffentlich sagt es nichts über den Sänger aus, daß er als
Betrunkener überzeugender ist als nüchtern…
Miroslav
CHRISTOFF, der neben dem großen "Sträfling" auch die "Stimme aus dem Zuschauerraum"
lieferte, war einer der erfreulicheren Teile des Abends. Im Dialog am
Anfang stellte er sein Gegenüber problemlos in den Schatten; danach hatte
er leider nur wenige Möglichkeiten zu brillieren. Pavol REMENÁR sang einen
sehr überzeugenden Goryancikov; jedoch wirkte er stellenweise verwirrt.
Ob das zur Rolle gehörte, oder ob sich der Sänger ernsthaft fragte, was
er da gerade tat, kann ich nicht sagen; hoffe aber auf Letzteres. Im ersten
Akt sang er den Mafiaboss mühelos gegen die Wand; außerdem hat er eine
ausgesprochen angenehme Stimme.
Matjaž
ROBAVS brillierte als Šiškov, der weder in der Höhe noch in der Tiefe
nachließ. Er war auch einer der Wenigen, die schauspielerisch ebenfalls
eine großartige Leistung auf die Bühne brachten; überzeugend stellte er
die ständigen Gemütsschwankungen seiner Rolle dar.
Reinaldo
MACIAS als Luka Kuzmic schien einige Zeit zu brauchen, um sich einzusingen.
Der etwas schwache Beginn seiner Erzählung könnte allerdings auch daran
liegen, daß er gerade auf dem Boden lag und sich eine Line zog… Wieder
auf den Beinen gelang es ihm problemlos, sowohl stimmlich als schauspielerisch
mich zu begeistern und gerade gegen Ende seiner Geschichte hatte er mich
völlig in den Bann gezogen.
Die
größte Freude des Abends war aber ohne Zweifel Peter STRAKA als Skuratov.
Durchgehend kraftvoll und überzeugend singt. Stellenweise so weich, daß
seine Trauer um die verlorene Lujza jeden mitreißt und dann doch wieder
so voll Energie, daß man ihm tatsächlich glaubt, in Wut einen Menschen
erschossen zu haben. Auch gelingt ihm sehr gut die Darstellung eines Skuratovs,
der am Anfang nur ein Spaßvogel ist und dann erst langsam in die Verrücktheit
abdriftet.
Wenn
mir der Abend in Zürich etwas gebracht hat, dann vor allem die Erkenntnis,
daß keine Idee so abgedreht ist, dass sie nicht schon mal jemand gehabt
hätte… NG
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