Zürich
hat einen neuen "Chenier". Ich habe nicht wirklich nachvollziehen können,
ob es in der Regie von Grischa ASAGAROFF ein Konzept gab. Betrachtet man
die Personenregie, so ist das Stück eigentlich kreuzbrav vom Blatt inszeniert
worden. Die roten Leuchtkreise an den Hälsen der Aristokraten, als diese
am Ende des ersten Aktes ihrem Untergang entgegen gehen, wirkten durchaus
passend. Die Begegnung der Kinder Maddalena und Gerard im Hintergrund
des dritten Aktes fiel ob der Intensität der beiden Sänger vorne kaum
auf. Daß man im vierten Akt la Legray tatsächlich das Gefängnis verlassen
läßt, war eine gute Idee, eine weniger gute war Chenier und Maddalena
quasi per Lift zur Hinrichtung von der Bühne zu befördern; der Effekt
war gleich Null.
Das
wahre Problem der Produktion stellt jedoch die Ausstattung von Reinhard
VON DER THANNEN dar. Das Einheitsbühnenbild mit seiner Kuppel nebst Rundgang,
das zum vierten Akt nach unten versenkt wird, ist dabei noch praktikabel.
Aber die Kostüme schwanken, speziell was den Chor angeht, zwischen unkleidsam
und häßlich. Wieso müssen alle Choristen ab Akt 2 in Trikolorenkostümen
herumlaufen, die zudem nicht einmal dem Stil der Zeit entsprechen? Wieso
haben außer den Protagonisten alle Figuren weißgeschminkte Gesichter?
Wieso müssen die Perücken, besonders bei den Herren, so strähnig sein,
daß man den Wunsch bekommt, Haarkuren auf die Bühne zu werfen?
Immerhin
konnte die Lichtgestaltung von Martin GEBHARDT sich sehen lassen. Nicht
sehen lassen konnte sich hingegen die Choreographie für die Pastorale
von Stefano GIANNETTI, über deren Sinn ich mir auch Stunden nach der Vorstellung
nicht klar wurde. Weder wurde hier die alberne Schäferphantasie ironisiert,
noch sonst etwas damit ausgedrückt.
Anfang
September war bei seinem Cavaradossi in Hamburg festzustellen, daß Salvatore
LICITRA sich vor allem auf die "Hits" warf, und den Rest so nebenbei zu
singen schien. Nun hat der Chenier an Arien gleich vier. Weder in diesen
noch in den sonstigen Szenen vermochte Licitra jedoch zu überzeugen. Die
Stimme klang unausgeglichen. Da ist ein schönes, baritonales Fundament
über dem die Stimme schmaler und weniger qualitätsvoll wird. In der Höhe
finden sich dann sichere, aber mit zuviel Kraft und Druck herausgestoßene
Spitzentöne. Das innere Glühen für ein romantisches Ideal blieb der Tenor
gleich ganz schuldig.
Micaela
CAROSI, als Maddalena, die im Libretto ja als "la bionda" beschrieben
wird, war mit einer knallroten Perücke geschlagen worden, warum auch immer.
Zudem wurde sie durch die Regie teilweise sehr eingeschränkt, die ganz
offenbar einer entsprechenden Idee geschuldete überdivenhaften Attitüde
bei "La mamma morta" wirkte beispielsweise aufgesetzt. Sie sang jedoch
großartig mit einer breiten, warmtimbrierten Stimme, die sich ohne Schwierigkeiten
in die Höhen aufschwang, ohne dabei an Qualität zu verlieren. Daß sie
durchaus darstellerisch aus sich herausgehen kann, war in der Konfrontation
mit Gerard im dritten Akt sehr wohl zu bemerken.
Wenn
es an diesem Abend einen Sänger gab, der unangefochten über Regie und
Ausstattung triumphierte, war dies Lucio GALLO als Gerard. Zu Beginn noch
etwas verhalten und in der unteren Lage etwas angekratzt klingen, hatte
sich dies jedoch im zweiten Akt gegeben. Ab diesem Moment lief der Bariton
zu großer Form auf, sein mit unglaublicher Präzision und gleichzeitig
fast greifbarer Emotion gesungenes "Nemico della patria" und die nachfolgende
Szene mit Maddalena waren sicherlich die Höhepunkte des Abends. Auch darstellerisch
waren die ambivalenten Gefühle, die Zerrissenheit zwischen Liebe, Begehren
und Politik, jederzeit sichtbar.
Judith
SCHMID war eine darstellerisch überzeugende Bersi, die jedoch im zweiten
Akt einige grelle Töne produzierte. Cornelia KALLISCH hatte wenig Möglichkeiten,
sich als Madelon schauspielerisch zu profilieren, da die Regie sie in
einen Handwagen verfrachtet hatte. Diese erzwungene Unbeweglichkeit machte
sie jedoch stimmlich wieder wett und vermochte zu ergreifen. Margaret
CHALKER war stimmlich als Contessa di Coigny ohne Makel, blieb jedoch
als Figur nicht in Erinnerung.
Gabriel
BERMÚDEZ (Roucher) war mit nicht allzu großer, aber gut fokussierter Stimme
ein darstellerisch sehr präsenter Freund des Titelhelden. Der Incroyable
von Martin ZYSSET bot in Gesang und Spiel gleichermaßen so überzeugend
den Polizeispion dar, daß man sich schon selbst beobachtet fühlte. Warum
der Mathieu Valeriy MURGA von einem sidekick begleitet wurde, erschloß
sich mir nicht. Ebensowenig wie sein Outfit, was mich spontan an den "singenden
Rebellen" aus der Politsatire "Water" erinnerte (übrigens auch nach zwanzig
Jahren noch ein sehenswerter Film). Singen tat Murga auf jeden Fall prachtvoll.
In
den kleineren Rollen war das Niveau höchst unterschiedlich. Während Kresimir
STRAZANAC (Fléville) und Deniz YILMAZ (Abbate) wenig erfreuliches boten,
war Schmidt mit Giuseppe SCORSIN sowohl als Typ als auch von der Stimme
her goldrichtig besetzt. Morgan MOODY als Fouquier-Tinville stellte sogar
in Auftreten und Gesang eine wahre Luxusbesetzung dar. Murat AÇIKADA (Dumas)
und Michael ADAIR (Haushofmeister) blieben dagegen unauffällig.
Nello
SANTI am Pult des fehlerfrei und animiert spielenden ORCHESTERS DER OPER
ZÜRICH dirigierte sängerfreundlich und mit interessanten Akzenten. Gelegentlich
setzte er jedoch etwas zu sehr auf die Effekte und wurde plakativ. Etwas
mehr Subtilität wäre an diesen Stellen schön gewesen, dies ist jedoch
nur als kleine Einschränkung der ansonsten guten Leistung gedacht. Der
CHOR unter der Leitung von Jürg HÄMMERLI war ohne jeden Tadel. MK
|