Die
vierte Vorstellung, die ich besuchte, packte mich genauso wie alle vorherigen.
Hin und weg war ich vor allem von Christopher VENTRIS in der Titelrolle.
Es ist einfach unglaublich, was der Mann nach so vielen Vorstellungen
in so kurzer Zeit (6 Mal in knapp 14 Tagen, Probenzeit nicht eingerechnet)
noch auf die Bühne bringt. Er verkörpert den rauhen Seemann genauso perfekt
wie den von Zweifeln geschüttelten Paria, er ist ein Peter Grimes, der
die Partie in jeder Situation singt. Seinen großen Monolog im dritten
Akt vermag er sogar noch mit umwerfenden Pianissimo-Tönen auszustatten…
Eine gewaltige Leistung, die einen immer wieder zutiefst aufwühlt; für
meine Empfinden schlichtweg sensationell. Auch die Handhabung der englischen
Sprache war eine Meisterleistung: jedes Wort konnte verstanden werden
(bei ihm hätte es die Übertitel, die das Opernhaus gottlob neuerdings
immer einblendet, nicht gebraucht!).
Die
Ellen Orford von Emily MAGEE steht ihm jedoch in fast nichts nach. Auch
sie brachte stimmlich jede Nuance ihrer Rolle zum Ausdruck, und auch darstellerisch
vermochte sie der Person Naivität, Liebreiz, Engagement, Zerrissenheit
einzuhauchen.
Den
gutmütigen, bisweilen bärbeißigen Captain Balstrode konnte Alfred MUFF
darstellerisch glaubhaft verkörpern Stimmlich vermißte ich jedoch die
Kantabilität. Er verfiel mir zu stark in Sprechgesang und sein (Schweizer)
Akzent fiel gegenüber den beiden Hauptprotagonisten sowie dem Richter
Swallow von Richard ANGAS sehr stark ab. Angas verfügt zwar über keine
schöne Stimme im eigentlichen Sinn, vermag aber stimmlich und darstellerisch
die Rolle voll auszufüllen und auszukosten. Er ist sich auch nicht zu
schade, lächerlich zu wirken, wenn er auf allen Vieren den "Nichten" nachstellt.
Diese
werden lasziv von Sandra TRATTNIGG und Liuba CHRUCHROVA rollendeckend
verkörpert. Warum allerdings niemand Sandra Trattnigg davon abhält, im
ansonsten sehr homogenen Frauenquartett am Ende der 1. Szene des 2. Aktes
ihren Spitzenton auszusingen, bleibt mir ein Rätsel. In allen Vorstellungen
inklusiv der Generalprobe hat sie den so sehr versiebt, dass einem die
Ohren schmerzten…
Die
Nebenrollen sind alle hervorragend besetzt: "Auntie" (Liliana NIKITEANU)
ist nicht nur tüchtige Wirtsfrau und frivoles Wesen, sondern auch eine
Frau mit Herz. Der Quacksalber Ned Keene wird kraftvoll von Cheyne DAVIDSON
verkörpert, während Martin ZYSSET einen salbungsvollen, bigotten Pfarrer
gibt. Herrlich komödiantisch ist Cornelia KALLISCH als drogenabhängige
Mrs. Sedley, während Rudolf SCHASCHING als methodistischer Eiferer Bob
Boles für mein Empfinden etwas fehl am Platz ist.
Die
Regie von David POUNTNEY findet in einem Einheitsbühnenbild statt. Der
gesellschaftliche Mief ist optisch sehr gut dargestellt und beklemmend:
an zwei Säulen, auf zwei Etagen in der Höhe sitzen die Bewohner des Dorfes
bei ihren täglichen Tätigkeiten und schauen auf die hilflosen Versuche
Grimes' hinab, sich zu befreien. Die Bühne ist etwas überfrachtet und
lenkt bisweilen etwas ab.
Doch
die Personenführung ist hinreißend und bis ins letzte Detail durchdacht.
Der hervorragende CHOR darf sich wieder einmal auch schauspielerisch betätigen,
was er mit Hingabe tut. Für Pountney ist Grimes ganz klar ein Opfer; er
klagt die Gemeinschaft an und läßt Grimes auch optisch "sein Kreuz tragen".
Eine aufwühlende Deutung.
Das
gleiche gilt es von der musikalischen Seite zu sagen: Grandios und inspiriert
spielt das ORCHESTER DER ZÜRCHER OPER unter der Leitung seines Chefs Franz
WELSER-MÖST. Er ziseliert, erzählt und illustriert das Geschehen mit großer
Eindringlichkeit. Er läßt die Naturgewalten explodieren, untermalt lyrische
Stimmungen; die Spannung wird in jeder Sekunde gehalten.
Eine
eindringliche Produktion, die keine Wünsche offen läßt und gewaltig unter
die Haut geht. So stark, daß ich sie mir leider nicht allzu oft anschauen/anhören
kann. Chantal Steiner
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