Die
letzte Première der vergangenen Saison, Puccinis "La Bohème", wurde am
2. Tag der neuen Spielzeit gleich wieder aufgenommen, und man merkte es
ihr an, daß sie nicht lange "gelegen" hat.
Die
Inszenierung des erstmals am Opernhaus engagierten Philippe SIREUIL findet
Anklang, auch wenn ich nach vier besuchten Vorstellungen immer noch der
Meinung bin, daß neue Erkenntnisse vermißt werden. Sireuil schafft es
jedoch, in einer kargen, modernen Bühnenwelt das Stück zeitversetzt zu
erzählen, ohne es gegen den Strich zu bürsten. Es ist eine konventionelle
Inszenierung, mit viel Liebe zum Detail und einer sehr guten Personenregie.
Leider gerät das Eine oder Andere etwas unter die Gürtellinie, manchmal
etwas gar plakativ oder unnötig. Verstehen kann ich seine Deutung des
2. Bildes nach wie vor nicht. Warum findet das Ganze in der Karnevalszeit
und nicht an Heiligabend statt? Befinden sich die Leute draussen oder
drinnen? Vom Ablauf her müßte es draussen sein; warum aber sind alle in
kurzen Hemden, warum frieren sie plötzlich nicht mehr?
Gelungen
hingegen die Umsetzung der Mansarde. Extrem eng geraten, mit wenig Platz
und sehr wenig Requisiten. Ein Dach (das auch im 3. Akt als Bahnhofsdecke
benützt wird) verhindert jedoch - wieder einmal - fast die Sicht derjenigen
Zuschauer, die sich im 2. Rang etwas seitlich befinden. Diese Enge half
jedoch den Sängern, von einem günstigen Standort aus über das mächtige
Orchester zu singen, ohne ins Rampensingen zu verfallen. Ebenfalls sehr
angenehm war der praktisch nahtlose Übergang zum 2. Bild. Für mich könnte
man diesen Teil der Oper jedoch ersatzlos streichen, ist er für meine
Begriffe doch nicht unbedingt relevant und musikalisch eher ein Tohuwabohu.
Löblich seien jedoch CHOR und KINDERCHOR hervorgehoben, die dieses Durcheinander
perfekt zu singen vermochten.
Daß
das 3. Bild in einer Bahnhofshalle (das Cabaret ist offensichtlich eher
ein Freudenhaus) spielt, störte nicht weiter. Reisende gibt es an jedem
Bahnhof, denen Musetta das Singen beibringen könnte, und auch am Bahnhof
kann es Zöllner geben, auch wenn es so dem Text nicht ganz entspricht.
Die Umsetzung kann im Grossen und Ganzen als gelungen, wenn auch als eher
konventionell beurteilt werden; ein Meisterwurf ist es aber bestimmt nicht.
Die
spielfreudige Sängergilde bestach durch hervorragendes Agieren. Die Komik
kam ebenso zum Zug wie die Tragik, und musikalisch konnte kaum etwas ausgesetzt
werden.
Cristina
GALLARDO-DOMAS' Mimi war wiederum absolut bestechend, vielleicht sogar
noch etwas naiver, märchenhafter, romantischer, verzweifelter als an der
Premiere. Sie konnte alle Schattierung mit ihrer Stimme und der Interpretation
ausdrücken. Auch in den glücklichen Momenten schwebte die Melancholie
immer um sie. Ihr Sterben war überwältigend - berückende Piani, welche
fast im Unhörbaren erstarben, genial untermalt vom Orchester, das sich
bis zum Äußersten zurücknehmen konnte.
Marcello
GIORDANIs Leistung war wiederum eher zwiespältig. Sein Timbre (meist mit
einem Schleier belegt) ist nicht wirklich mein Geschmack; nachdenklicher
stimmte mich aber, daß er bisweilen etliche Mühe in der Höhe (eng) hatte,
die Stimme im Piano nicht wirklich ansprach und zuweilen sogar abbrach
und oftmals nach hinten rutschte. Differenzierung ist nicht unbedingt
seine Sache, im Fortissimo blüht die Stimme auf. Trotz der nicht umwerfenden
Leistung empfand ich die vereinzelten Buhs als nicht gerechtfertigt.
Elena
MOSUC verkörpert die Musetta mit viel Temperament, draufgängerisch, kokett,
frivol und selbstsicher. Ihre Wandlung im letzten Bild war von einer anrührenden
Sensibilität. In ihrem Zwist mit Marcello in der Bahnhofshalle flogen
musikalisch so die Fetzen, daß es richtig Spass machte! Giuseppe SCORSIN
als Lover Alcindoro chargiert für mein Empfinden wiederum zu stark, so
daß dieser Charakter einen debilen Anstrich erhält.
Mit
dem Marcello bewies Michael VOLLE hingegen wiederum, was für ein prächtiger
Sängerdarsteller er ist. Er setzte mit seinem warmem, farbenprächtigen
Bariton starke Akzente und vermochte jederzeit voll zu überzeugen. Die
restlichen Bohémiens, Lászlo POLGAR (Colline) und Cheyne DAVIDSON (Schaunard),
rundeten stimmig das Quartett ab.
Das
ORCHESTER DER OPER ZÜRICH vermochte die Leistung der Premierenserie fortzusetzen.
Franz WELSER-MÖST dirigiert einen "entschlackten" Puccini, mit einer ausgeprägten
Dynamik (feinste Piani lösen Fortissimi, welche bisweilen die Akustik
des Opernhauses an ihre Grenzen bringen, ab), die Spannungsbögen sind
brillant ausgearbeitet. Zu keiner Zeit wird es langweilig, und trotz der
transparenten Lesart kann man die Sinnlichkeit spüren und im Klangteppich
Puccinis "baden", ohne daß dieser aber pastos wirkt. Bei jedem Mal ergeben
sich dadurch neue Erkenntnisse in der Partitur. Schade, daß die "Bohème"
im Frühjahr nicht mehr vom neuen Generalmusikdirektor geleitet wird! Chantal
Steiner
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