Francesco
Maria Piave hat das Libretto dieser Tragedia lirica nach zwei Theaterstücken
erarbeitet und eines der bühnenwirksamsten Bühnenwerke für Donizetti geschaffen.
"Anna Bolena" wurde am 26. 12. 1830 im Teatro Carcano in Mailand uraufgeführt
(mit Giuditta Pasta als Anna Bolena und der achtzehnjährigen Elisa Orlandi
als Jane Seymour, die mit 23 als Adalgisa in Bellinis "Norma" auf der
Bühne plötzlich verstarb). :Anna Bolena" ist die erste der vier so genannten
"Tudor-Opern" Donizettis und leitete einen neuen Gesangsstil und eine
eminent politische Behandlung historischer Themen auf italienischen Opernbühnen
ein. Das Duett zwischen den beiden weiblichen Hauptrollen "Sul suo capo
aggravi un Dio" im 2. Akt gehört zu den absoluten Höhepunkten des Opernrepertoires.
Nach
Jahrzehnten des Vergessens, wurde "Anna Bolena" zu Ostern 1957 von Tullio
Serafin für Maria Callas an der Scala ausgegraben in einer mythischen
Luxus-Inszenierung von Lucchino Visconti (Ausstattung Nicolas Benois,
Giulietta Simionato als Jane Seymour, Nicola Rossi-Lemeni als Enrico,
Gianni Raimondi als Lord Percy). In der folgenden Saison wurde die Produktion
wieder aufgenommen, aber unter Gavazzeni und mit Cesare Siepi als König.
Ich gehöre zu den wenigen Glücklichen, die die beiden unvergeßlichen Vorstellungen
gesehen haben.
Staatsopern-Direktor
Dominique Meyer hatte bereits in Paris am Théâtre des Champs Élysées begonnen,
die Tudor-Opern Donizettis zu spielen, aber nur konzertant. Es war ein
Wagnis diese emblematische Oper auf die Bühne zu bringen. Denn diese Oper
ist nur mit zwei erstklassigen Sängerinnen aufführbar, die auch hervorragende
Schauspielerinnen sind. Das ist übrigens auch das große Problem dieser
Oper: die beiden Frauen "erdrücken" die anderen Rollen. Denn sowohl die
Rolle des Königs Henry VIII, als auch die des Percy sind wahrlich keine
Nebenrollen, d. h. man muß eine absolute Star-Besetzung auf die Bühne
stellen und dazu ein entsprechendes Regie- und Ausstattungsteam zur Hand
haben. Das ist Direktor Meyer völlig gelungen. Die Aufführung war einfach
großartig und denkwürdig.
Das
begann mit der intelligenten Inszenierung von Eric Génovèse, der die permanente
Angst vor dem König aller Beteiligten ständig zeigte. Das drückte sich
auch in der Personenführung aus, denn - außer in den intimen Szenen -
sind alle vor der Allmacht des Königs gebannt, was eine großteils statische
Bühne bot. Unterstützt wurde diese ständige Furcht durch das fast kahle
Bühnenbild von Jacques Gabel, das an die düsteren Schlösser Schottlands
gemahnte. Mit Ausnahme der Kleider der beiden Frauen - die in dem genannten
Zusammenstoß fast gleich gekleidet waren - und des Königs, waren die Kostüme
(Claire STERNBERG und Luisa SPINATELLI) ebenso düster und einfach. Ein
wenig Farbe kam am Schluß der Oper auf die Bühne, wenn Anna ihre Wahnsinnsarie
in eine riesige blutrote Schleppe gehüllt singt, bevor sie zur Hinrichtung
schreitet. Ein kleines Mädchen wohnt dieser Exekution bei: Annas Tochter,
die zukünftige Königin Elisabeth I. Ein kluger Wink mit dem Zaunpfahl
der Geschichte - und der späteren Opern Donizettis. Beleuchtet wurde die
Produktion sehr passend von Bertrand Couderc. Johannes Haider zeichnete
für die - kleine - Choreographie.
Evelino
Pidò, der bereits in Paris und Lyon zwei der Tudor-Opern, "Maria Stuarda"
und "Roberto Devereux", geleitet hatte, war der ideale Dirigent des Abends.
Großer Spezialist der späten Belcanto-Opern, ziselierte er mit höchster
Genauigkeit die gar nicht einfache - und praktisch unbekannte - Partitur.
Die WIENER PHILHARMONIKER folgten ihm willig und mit Enthusiasmus.
Anna
NETREBKO als Anna Bolena war ein großer Wurf. Die russische Sängerin hat
nun den Sprung zum Soprano dramatico di agilità gemacht, die großen Tragödinnen
stehen ihr nun offen und Rollen wie Norma, Alkeste, Medea, Marguerite
de Valois usw. sind Netrebko sicher. Die Stimme ist erheblich stärker,
dramatischer und ungewöhnlich ausdrucksvoll geworden, die - gepaart mit
ihrer stupenden Technik - ihren Star-Status in Zukunft garantiert.
Allerdings
ist mit ihrer Konkurrentin, Giovanna Seymour, in der Person von Elina
GARANÇA zu rechnen, die ebenfalls in dieses Fach tendiert. Die Pracht
der Stimme hat sich in den Höhen erheblich erweitert, und die Stimmen
der beiden Damen sind bisweilen zum Verwechseln ähnlich. Daß die beiden
ausgesprochen attraktive Frauen sind, ist wahrlich kein Handikap. Wenn
die beiden Rivalinnen sich im 2. Akt konfrontieren und wie Löwinnen um
einander schleichen, hielt das ganze Haus den Atem an. Denkwürdig!
Eine
sehr erfreuliche Überraschung war Elisabeth KULMAN in der Hosenrolle des
verliebten Pagen Smeton, die einen perfekten Mezzosopran mit diskreten,
aber bestimmten Spiel vereinte. Lord Riccardo Percy, den einstigen Verehrer
Annas spielte der junge Francesco MELI hervorragend. Was ihn nicht hinderte
drei brillante, äußerst schwierige Arien mit Perfektion und Überzeugung
zu singen, was ihm immer Szenenapplaus einbrachte. Ildebrando d`ARCANGELO
wandte seinen Prachtbaß und seine imposante Statur bestens für den König
Enrico VIII. an und sang den rücksichtslosen, geilen Potentaten mit Bravour.
Annas Bruder, Lord Rochefort, der ebenso aus dem Weg geräumt wird, war
Dan Paul DUMITRESCU, der seiner Schwester die Treue bis zum Ende mit schöner
Stimme bewies. Einzig Sir Hervey, der Herold und Handlanger des Königs,
war mit Peter JELOSITS etwas stimmschwach und enttäuschte.
Ein
denkwürdiger Abend, ein Triumph auf der ganzen Linie, der mit zwanzigminütigem
Schlußapplaus endete. wig.
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