Bei
vielen Opern des ausgehenden 19. Jahrhunderts ("Werther", "Manon", "Pique
Dame", "Louise", "Eugen Onegin") besteht die Gefahr, daß die Aufführung
in weinerliche Sentimentalität oder unerträglichen Kitsch abgleitet. Diese
Werke behandeln durchwegs gesellschaftliche Probleme ihrer Zeit und sind
heute schwer zu inszenieren. Tschaikowskys Musik - wie die Massenets -
gehört zum romantisch-emotionalsten der Opern-Literatur überhaupt. Sentimentalität
war sicher nicht der Fall in dieser Aufführung - eher das Gegenteil.
Daß
die Vorstellung nicht in Trübsinn endete, ist vor allem Seiji OZAWA zu
danken. Er verwandelte das Emotionelle der Musik in dramatische Steigerung
und wußte die Intensität der Gefühle so heraus zu arbeiten, daß niemals
Kitsch-Gefahr aufkam. Nach "Pique Dame" im vergangenen Herbst, hat Ozawa
anscheinend einen Tschaikowsky-Zyklus in Wien begonnen - die Opern Tschaikowskys
sind ja in den letzten Jahren ziemlich vernachlässigt worden und überstehen
nicht immer die erwähnten Gefahren. Es ist zu hoffen, daß auch weniger
bekannte Werke zum Zug kommen, z.B. "Mazeppa" oder "Iolanta". Der zukünftige
Erfolg eines solchen Zyklus hängt aber sehr von der Wahl besserer Regieteams
ab. Denn bereits die Produktion von "Pique Dame" war szenisch ziemlich
trostlos.
"Verdrängung"
der Emotionen ist ja im "Regietheater" ziemlich beliebt und hier wurde
diese Verdrängung auf die Spitze getrieben, denn das Geschehen auf der
Bühne war von polarer Kälte. Dafür sind in erster Linie der Regisseur
Falk RICHTER und sein Bühnenteam verantwortlich, das erst am Schluß Gefühle
aufkommen ließ. Das
Bühnenbild von Katrin HOFFMANN war von trostloser Eintönigkeit und Kälte.
Eine schwarze flache, nach vorne absteigende Stiege beherrschte alle Szenen
vor einem schwarzen Hintergrund. Möbel aus nach Lego-Methode aufgetürmten
Eis-Quadern (so erschienen diese jedenfalls) bildeten das Mobiliar von
Tatianas Zimmer. Beim spärlich beleuchteten Fest Larinas stand in der
Mitte ein langer Tisch oder Tiefkühltruhe, denn es waren anscheinend auch
Speisen drin, was an einen Supermarkt erinnerte. Diese Truhe thronte auch
in der Duellszene, diesmal schräg über die Bühne, mit Alu-Folie bedeckt,
auf der die Duellisten ihre Pistolen auspackten.
Dazu
kamen meist schwarze, gegebenenfalls graue, Kostüme von Martin KRAEMER,
die ebenfalls nicht zur Belebung des Geschehens beitrugen. Larinas Kulaken
waren in schwarze Joppen gekleidet und hielten aus unklaren Gründen dunkelblaue
Werkzeugkanister in den Händen. Nur Olga durfte als einzige rote oder
rostbraune Kleider tragen. Im 1. Akt trug Tatiana ein blaues Ballkleid,
während sie am Schluß in einen goldenen, pelzbesetzten Mantel auftrat.
Carsten SANDER beleuchtete all dies entsprechend trostlos. Da die Oper
in Rußland spielt, schneit es auch ständig. In dieser nicht gerade stimulierenden
Atmosphäre hatte es Regisseur Falk Richter natürlich schwer, die Hauptpersonen
passend interagieren zu lassen. Schon im Konversations-Quartett im 1.
Akt wurde auf Distanz gespielt. In der Briefszene schrieb Tatiana abwechselnd
auf dem Boden oder auf einem der Eisblöcke - dabei gab es einen kleinen
Eis-Schreibtisch in der Ecke.
Glücklicherweise
war die musikalische Seite hervorragend. Seiji Ozawa unterstützte hervorragend
die Sänger und den CHOR (Leitung Thomas LANG), die herrlich sangen. Die
trübsinnige Inszenierung bremste jedoch den Enthusiasmus der Sänger erheblich,
so daß die Glaubhaftigkeit ihrer Darstellung an vielen Stellen litt. Das
trifft vor allem für den absolut perfekt singenden Titelhelden Simon KEENLYSIDE
zu, der erst nach dem Duell zu begreifen scheint, was los ist, wenn er
den toten Lenski in seine Arme schließt - mit Abstand die ergreifendste
Szene. Sein erster Auftritt war von unterkühlter Distanz und nicht sonderlich
beeindruckend, ein unnahbarer Snob, der seinen Spleen kultiviert, der
Tatiana abkanzelt, als wäre sie eine Schülerin. Weniger distanziert war
Tamar IVERI als Tatjana, die schon in der Briefszene das etwas überspannte
junge Mädchen passend zeichnete. Am besten zog sich Zoryana KUSHPLER als
Olga aus der Affäre; sie sang wunderbar, ließ ihren schönen warmen Mezzo
strömen und spielte die leichtlebige Schwester mit Temperament in farbigen
Kleidern.
Ramón
VARGAS als Lenski ist ein spezieller Fall. Zu Beginn hatte er hörbare
Intonations-Probleme, sang mehrmals zu tief und beeindruckte in der Liebeserklärung
an Olga nicht sonderlich. Er sang sich schließlich frei, doch das Problem
liegt woanders: dieser ausgezeichnete Künstler singt hörbar zu viel. Vor
zwei Jahren sang er noch Idomeneo und heuer, zwischen zwei längeren Serien
von "Ballo in maschera" in London und Paris, sang er mehrere Male alternierend
De Grieux, Werther und Lenski in Wien, um schließlich drei Tage nach dem
letzten Lenski zwei Mal das Verdi-Requiem in Paris zu singen. Der Tenor
hat bereits ins spinto-Fach gewechselt, doch sein typisch italienischer
Gesang wird dem etwas weltfremden, verträumten russischen Poeten kaum
gerecht. Das Singen quer durch das Tenor-Repertoire sollte der Sänger
etwas sparsamer betreiben, bevor es zu spät ist.
Beim
Fest bei Fürst Gremin im letzten Bild läuft Onegin zuerst mit offenem
Hemd auf die Bühne, dann schreitet der Chor paarweise im Schneckentempo
die flache schwarze Stiege herunter und schließlich auch Fürst Gremin
und Tatjana. Begräbnis-Atmosphäre zu Tschaikowskys Polonaise. Ain ANGER
als Fürst Gremin ist der personifizierte russische Hocharistokrat und
rettete die Situation. Die große Arie im letzten Akt, die bisweilen sehr
langweilig wirkt, war von besonderer Ausdruckskraft und wurde vom Publikum
mit ganz großem, verdientem Applaus bedacht. In der Schlußszene kam endlich
so etwas wie Emotion auf. Simon Keenlyside konnte hier seine schauspielerische
Ausdrucksfähigkeit zeigen und Tamar Iveri die Größe von Tatjanas Verzichts
in einem emotionellen Ausbruch gesanglich und schauspielerisch hinreißend
vermitteln.
Die
Nebenrollen waren meist gut. Aura TWAROWSKA als mütterliche Larina setzte
ihren angenehmen Alt schön ein. Margareta HINTERMEIER als Filipjewna war
sehr besorgt um Tatjana und sang wunderschön. Nicht sehr überzeugend war
der Monsieur Triquet von Alexander KAIMBACHER, der sein Französisch etwas
kultivieren könnte. Er litt allerdings an der idiotischen Verkleidung
als Moderator einer Fernseh-Quiz-Sendung in Flitter-besetztem Smoking,
der auf der Tiefkühltruhe sein Liedchen sang. Marcus PELZ (Saretzki),
Hans Peter KAMMERER (Hauptmann) und Oleg ZALYTSKIY (Vorsänger) waren rollendeckend.
Bei Larinas Fest gab es auch eine Choreographie von Joanna DUDLEY, die
in ein Bacchanale ausartete. Dafür gab es kein Ballett zur Polonaise bei
Gremin.
In
Abwesenheit des Bühnenteams wurden Sänger und Dirigent, sowie Chor und
Orchester lautstark gefeiert. wig.
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