Weshalb
fährt man 1000 Kilometer für einen einzigen Liederabend? War es Nostalgie,
die uns zu Ferienbeginn nach Wien trieb? Mitnichten! War es die Neugier,
einem "Dinosaurier der Opernwelt" nochmals zu lauschen? Ganz sicher nicht,
denn Giacomo ARAGALL ist weder ein sogenanntes Urgestein der Klassikszene,
noch steht er am Ende seiner Karriere. Das Recital im Wiener Opernhaus
bewies dies auf beeindruckende Weise wieder ganz deutlich. Die Reise nach
Wien geschah in Erwartung eines großen Musikereignisses der ausgehenden
Saison, und wir wurden nicht enttäuscht.
Aragall
schenkte seinem Publikum einen Abend lang wunderbar strömenden Tenorgesang
voller Emotionen, akzentuierter Liedinterpretation und neben einer schier
endlosen Reihe makelloser Spitzentöne auch innige piani. In der Zeit seit
dem letzten Liederabend in Wien (Januar 1997) hat der Künstler nicht nur
ein differierendes Programm erarbeitet, er hat auch seine Interpretationen
verfeinert, und so wurden dem aufmerksamen Zuhörer empfindsame Darbietungen
unter dem vollen Einsatz einer gesunden, frischfarbigen Stimme geboten.
Das
Programm begann mit Liedern von (bzw. diesem lange zugeschriebenen) Bellini,
Donizetti, Verdi und di Capua vor der Pause und setzte sich nach der Pause
mit Tosti und Puccini fort. Jedes Lied brachte Aragall der jeweiligen
Stimmung folgend dar, mal melancholisch wie "Fenesta ca lucive", mal mit
Schalk in den Augen als Gesang auf "A vucchella".
Die
Bellini-Lieder zeigten sogleich, daß auch nach einer längeren Karriere
die Stimme ruhig strömen kann. Einen ungewöhnlichen ersten Höhepunkt setzte
"La trademiento" von Donizetti, die Klage eines verlassenen Mädchens (!)
nach dem Motto: "Du wirst schon sehen, was du davon hast", vorgetragen
mit raffinierter Phrasierung und viel Augenzwinkern.
Für
die Interpretation von Verdis "Il poveretto" hätten Aragall die meisten
Anwesenden sicher mehr als den im Text verlangten Groschen gegeben, und
"La seduzione" verführte das Publikum trotz des arg kitschigen Inhaltes
zum Träumen. Di Capuas "I' te vurria vasà" hätte man gerne zurückgegeben,
ob des dunkler gewordenen, sinnlichen Timbres des Sängers.
Mit
Tostis "Serenata" brachte Aragall das Lied und die Herzen zum Fliegen,
und daß auch Tosti eine "Mattinata" geschrieben hat, konnte man an diesem
Abend ebenfalls noch lernen.
Puccinis
Lieder "Morire?", "Sole e amore", "Avanti Urania!" und "Terra e mare"
kann man schon als kleine Arien einordnen, die Sehnsucht nach den Puccini-Rollen
des Künstlers wach werden ließen.
Den
ewig kritisierenden Nörglern trotzend betrat Giacomo Aragall mit dem letzten
Stück des offiziellen Programms noch operales Neuland. Er interpretierte
Tschaikowskis berühmte Lenski-Arie sprachlich korrekt auf russisch mit
einem feinen Gespür für die Seele der Worte.
Mehr
als nur ein zuverlässiger Begleiter am Bösendorfer war Vincenzo SCALERA.
Der erfahrene Pianist begleitete den Interessen des Sängers untergeordnet
und fehlerfrei, ließ aber Passagen für die Präsentation der eigenen Kunst
nicht ungenutzt. Es ist kaum vorstellbar, daß es für dieses Repertoire
einen besseren Begleiter als Scalera geben kann.
Natürlich
konnte nach diesem Liederabend nicht schon nach dem offiziellen Programm
Schluß sein. Nach den Zugaben "Core 'ngrato" und "Non puede ser" schien
Tostis "L'ultima canzone" bereits das Ende des Konzertes anzukündigen,
doch das Publikum wollte sich damit noch lange nicht zufriedengeben. Es
folgten noch "Tu, ca nun chiagne", "O sole mio" mit besonders originell-virtuoser
Begleitung des Pianisten sowie "Tra voi belle" aus "Manon Lescaut". Auch
während der Zugaben hielt Aragall das hohe Niveau, ohne daß die Stimme
Ermüdungserscheinungen zeigte.
Es
blieb somit nicht aus, daß das begeisterte Publikum auch nach der sechsten
Zugabe nicht bereit war, heimwärts zu ziehen. Schließlich improvisierten
Giacomo Aragall und Vincenzo Scalera noch die letzten Takte von "E lucevan
le stelle".
Es
bleibt zu hoffen, daß dies nicht der letzte Abend Giacomo Aragalls in
Wien gewesen ist, und er dort (...oder vielleicht 1000 Kilometer weiter
nördlich) auch wieder in Opernvorstellungen zu hören sein wird. Gracies,
Jaume, t'estimem! AHS & MK
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