Manchmal
möchte man einfach im Theater gut unterhalten werden. Ich denke dabei
an Unterhaltung, die ein gewisses Niveau besitzt, ohne daß gleich der
moralische Zeigefinger erhoben wird, genauso wie an Spaß. Gefunden habe
ich genau diese Mischung im Royal Exchange Theatre in Manchester.
Beeindruckend
ist schon das Gebäude an sich. Die ehemalige Baumwollbörse, einst mit
ihren drei Kuppeln der größte Saal der Welt, ist ein imposantes Zeugnis
der industriellen Blütezeit Manchesters. Im 2. Weltkrieg schwer beschädigt,
wurde das Gebäude in kleinerer Form wiederaufgebaut und bis 1968 als Börse
genutzt. Danach stand es leer, war sogar vom Abriß bedroht, bis 1973 eine
Theatergruppe die Räumlichkeiten bezog. Das Royal Exchange Theatre wurde
schließlich 1976 gegründet.
Der
eigentliche Theatersaal befindet sich in einem futuristisch anmutenden
Gebilde aus Stahl und Glas, das sich überraschenderweise gut in die architektonisch
so unterschiedliche ehemalige Börse einfügt. Die Spielfläche entspricht
etwa der der Opera Stabile in Hamburg. Die Zuschauer folgen den Vorstellungen
im Parket und zwei Rängen rundum diese Bühne plaziert. Man ist dicht dran
am Geschehen.
Victoria
Woods Stück beginnt als Geschichte vom Wiedersehen einiger ehemaliger
Mitglieder des Manchester School Children's Choir. Im Jahr 1929 hatte
dieser Kinderchor Henry Purcells Bearbeitung von Thomas Shadwells "Nymphs
and Shepherds" mit großem Orchester und unter der Leitung von Sir Hamilton
Harty für Columbia eingespielt. 40 Jahre später entschloß sich Granada
Television im Rahmen einer Dokumentation über dieses Ereignis so viele
Chormitglieder wie möglich erneut zusammenzubringen.
Soweit
die Realität. Das Stück beginnt mit den Granada-Dreharbeiten. Hier begegnen
sich auch Enid Sutcliffe und Tubby Baker das erste Mal wieder. Die Geschichte
von der Reunion des Kinderchors wird Schritt für Schritt zur Geschichte
der beiden Protagonisten, zu einer Liebesgeschichte.
Victoria
Wood hat hierfür eine ausgewogene Komposition aus den beiden verschiedenen
Zeitebenen (1929 und 1969) geschaffen. Oft wie in einem Kammerstück entwickeln
sich die Beziehungen der Personen zueinander in kleinen Szenen und erst
am Ende offenbart sich das komplette Bild. Text, Spiel, Musik und Gesang,
sogar Tanz werden ganz selbstverständlich als Ausdrucksmittel genutzt.
Eine Mischung, die perfekt harmoniert.
Das
Ensemble, das sich für diese Aufführungsserie in Manchester zusammengefunden
hat, ist großartig. Allen voran, die grandiose Anna FRANCOLINI, die Enids
Charakter so facettenreich zeichnet, daß man die Figur umgehend ins Herz
schließt. Höhepunkt ihrer Darbietung war die Szene in Enids Schlafzimmer,
in der sie sich die Seele aus dem Leib tanzt, singt und spielt und so
den Wünschen und Sehnsüchten des Charakters machtvoll Raum gibt. Die Emanzipation
der Figur war liebevoll und vor allem glaubwürdig angelegt.
Dean
ANDREWS stand seiner Partnerin hier in nichts nach. Hierzulande eher aus
Fernsehserien bekannt, erweist er sich als für die Bühne geboren. Die
ruhige, sehr durchdachte Charakterisierung von Tubby und dessen Entwicklung
zeigt ein immenses schauspielerisches Können. In seinen Händen wächst
die Figur ganz behutsam und mit ihr die Sympathie des Publikums. Zu dem
komplett runden Spiel kommt eine warme, farbenreiche Gesangsstimme, deren
Klangschönheit man auf in den ersten Blick vielleicht gar nicht vermuten
würde. Es war schon schwer zu verstehen, daß Enid sich so lange blind
für Tubbys Wesen und Gefühle geben kann.
Für
sein Alter bereits unglaublich talentiert ist Alex STARKE. Sein Jimmy,
Tubbys 1929er Ich, komplettiert die Darstellung seines erwachsenen Kollegen.
Man hat keine Sekunde Zweifel daran, daß es sich um ein und dieselbe Persönlichkeit
handelt. Die Stimme klang in jedem Moment sauber. Kein Kieksen war zu
hören. Die Bühnenpräsenz ist ausgeprägt, aber trotz selbstbewußten Agierens
keinen Augenblick lang aufdringlich.
Eine
ausgesprochen beeindruckende Leistung. Sally BANKS und James QUINN zeigten
mit Dorothy und Frank Brierley eine herrliche verschrobene Karikatur der
englischen Mittelschicht der sechziger Jahre, so als wären sie geradewegs
einem Film der Zeit entsprungen. Auch als Enids Freundin Pauline sowie
deren Boss Mr. Stanley, zwei zu den zuerst genannten so unterschiedlichen
Charakteren, wußten beide hundertprozentig zu überzeugen. Stets superb
in der Artikulation war es ein Vergnügen beiden zuzuhören und zuzusehen.
Generell
war die enorme Wandlungsfähigkeit ein großes Plus der gesamten Besetzung.
Kelly PRICE, in der ersten Szene als Mandy so schrill, berührte als Chorleiterin
Gertrude Riall, die Rasselbande mit Bestimmt- und Sanftheit gleichermaßen
erfolgreich zu einem Klangkörper formt. Darren LAWRENCE bringt die gegensätzlichen
Charaktere von Jimmys Vater, einem umherreisenden Musiker, und Sir Hamilton
Harty mit viel Gespür für die Eigenheiten beider auf die Bühne.
Craige
ELS hat als Mr. Kirkby beinahe javerteske Züge, erlaubte der Figur aber
schlußendlich doch ein gutes Maß Menschlichkeit. Andy BRADY ist nicht
nur, aber insbesondere ein begnadeter Tangotänzer. Auch Laura MEDFORTH
(Jimmys Mutter, Kellnerin), Faye BROOKS (Edna, Ann, Kellnerin) und Aki
OMOSHAYBI (Sound Man, Lionel, Kellner) trugen zu diesem fabelhaften Abend
bei. Insbesondere die ihre großartige musikalische Darbietung in der Szene
im Restaurant darf hier nicht unterschlagen werden.
Der
Kinderchor zog den Zuhörer ob der Klangschönheit sofort in seinem Bann,
und man hätte sich (trotz Humperdinck-Allergie) auch noch ein oder zwei
weitere Male die englische Version "Brüderlein, komm tanz' mit" angehört.
Die
musikalische Leitung des Abends oblag Ian TOWSEND, der dies ausgezeichnet
meisterte und dazu auch Piano und Keyboard spielte. Seine Kollegen Andrew
DALLIMORE (Trompete, Cornet, Flügelhorn), Elsie CHADD (Tenorhorn, Trompete),
Mark MCLAUGHLIN (Euphonium, Posaune) und Richard WALDOCK (Baßgitarre,
Kontrabaß) gaben mit ihm zusammen dem Abend einen erstklassigen musikalischen
Rahmen, den auch ein größeres Orchester nicht besser hätte schaffen können.
Zusammenfassend
läßt sich sagen, daß der Abend einfach Spaß gemacht und viel Lust auf
mehr Brit-Theater geweckt hat. Wenn man für Oper und Musical weite Wege
in Kauf nimmt, weshalb nicht auch fürs Sprechtheater. AHS
|