(Aus
einem Totenhaus)
Um
meine Gral-Metapher der letzten gelungen "Totenhaus"-Aufführung weiterzuführen,
könnte ich dieses Mal sagen, daß der Straßburger Gral noch einmal schöner
aussieht als der aus Berlin, beim genaueren Hingucken, aber ein größerer
Teil der Edelsteine aus geschliffenem Glas bestehen…
Um
es klarer auszudrücken, Robert CARSENs Inszenierung dürfte die Beste und
Eindrucksvollste sein, die ich bisher gesehen habe; nur musikalisch bleibt
diese Aufführung hinter der, die ich in Berlin gesehen habe, etwas zurück.
Wie
so viele Aufführungen versuchte auch diese, Ort und Zeit des Geschehens
möglichst allgemein zu halten, doch scheint mir, daß gerade die Costumière
(Miruna BORUZESCU) sich eher an Solschenizyn als an Dostojewski gehalten
hat. Das Bühnenbild (Radu BORUZESCU) bestand aus einem einzigen Raum,
drei hohe Steinmauern, die meistens die Bühne komplett umschlossen (und
selbst wenn nicht, sah man den Ausgang meist nur, wenn das Licht daher
schien). Umbauten bestanden bestenfalls aus dem Hereinholen oder Heraustragen
von Requisiten und geschahen, außer zwischen den Akten, auf offener Bühne.
Als
Adler gab es diesmal sogar einen echten Raubvogel auf der Bühne (ich kenne
mich da nicht aus, aber ich glaube, er war zu klein für einen Adler),
der am Ende des dritten Akts auch einmal durch den Zuschauerraum in den
obersten Rang flog (nach einem Umweg über den darunter liegenden, von
dem ich immer noch bezweifle, daß er geplant war), wo eine Frau mit einer
Quietschemaus wedelte…
In
den Erzählungen der Sträflinge wurden Requisiten und andere Anwesende
kurzerhand zu Teilnehmern der Geschichte umfunktioniert. So erstach Luka
einen Schuh (auf den seine Zuhörer mittlerweile einen solchen Haß aufgebaut
hatten, daß sie danach auf den Schuh eintraten), Skuratov stieß einen
Backstein um (der danach ausführlich begutachtet wurde), Šapkin teilte
Aljeja in seiner Geschichte die eigene Rolle zu, und Šiškov sah Akulka
in seinem Kissen… Und es ist unglaublich wie groß der Effekt solcher Kleinigkeiten
auch auf den Zuschauer, zumindest auf mich, war.
Ausnahmsweise
sagten mir auch mal die Theaterstücke wirklich zu: Während das erste Theaterstück
größtenteils in Slow Motion auf der Vorderbühne aufgeführt wurde, fand
die Pantomime hinter einer Leinwand statt, auf die die Schauspieler projiziert
wurden. Dies nutzte man zu Späßen über die übergroßen Geschlechtsteile
der Liebhaber (so wurde einer von ihnen als Kleiderständer verkleidet,
indem die Müllerin seine Mütze auf sein Gemächt hängte), und tatsächlich
war es sogar wirklich lustig.
Insgesamt
hatte mich das Geschehen auf der Bühne zu diesem Zeitpunkt bereits ausreichend
in seinen Bann gezogen, daß ich nach Ende der Pantomime um ein Haar mitgeklatscht
hätte.
Wer
sich eventuell noch überlegt, die Oper zu sehen, sollte den nächsten Absatz
überspringen, denn für den Rest möchte ich den meiner Meinung nach eindrucksvollsten
Moment der Inszenierung nacherzählen: Als der betrunkene Sträfling zum
wiederholten Mal Skuratovs Geschichte unterbrach und sich sämtliche Zuhörer
gegen ihn wandten, um ihn zum Schweigen zu bringen, nutzte ein Anderer
dies, um einem Dritten seine Brotration zu klauen. Und das war ein lustiger
Moment, das gesamte Publikum kicherte. Spulen wir zum Finale vor: Als
die Wärter die Sträflinge nach der Freilassung des Adlers wieder an die
Arbeit schickten und diese im Kreis marschierten (siehe Gustave Dorés
"Newgate Exercise Yard" bzw. van Goghs "Rundgang der Gefangenen") zog
er das Stückchen Brot wieder aus der Tasche und begann mit ausdruckslosem
Gesicht daran zu nagen. Und da war es überhaupt nicht mehr lustig. Und
man fühlte sich furchtbar, daß man im zweiten Akt darüber lachen konnte…
Doch
genug, bevor ich die komplette Inszenierung nacherzähle.
Das
ORCHESTER unter Marko LETONJA wußte größtenteils zu begeistern, aber leider
blieb der eine oder andere Fehler nicht aus. Dennoch war mein Eindruck
größtenteils positiv. Allgemein hätte an der musikalischen Umsetzung noch
zu bemängeln, daß den Sängern wohl gesagt wurde, daß es in Ordnung sei
hin und wieder eine Zeile zu sprechen oder sogar zu schreien, was mir
nicht gerade zusagte.
Der
Platzmajor, gespielt von Patrick BOLLEIRE, enttäuschte leider ein wenig.
Nachdem er stark anfing, begann er leider, ebenso stark nachzulassen.
Im Finale war er über das Orchester teilweise nur schwer zuhören. Er spielte
um einiges besser, und seinem ersten Auftritt gelang es tatsächlich, ihn
als furchteinflößend darzustellen.
Andreas
JÄGGIs Leistung als Skuratov war wechselhaft. Sein Schauspiel wußte durchgängig
zu überzeugen, aber hin und wieder (z.B. im ersten Akt, als er anfängt
zu singen und zu tanzen) schien er Schwierigkeiten mit den hohen Tönen
zu haben. Im zweiten Akt war davon allerdings nichts mehr zu hören.
Unter
den kleinen Rollen des Wärters (Sunggoo LEE), des Kochs (Jens KIERTZNER),
des betrunkenen Sträflings (Hervé Huyghues DESPOINTES), des Schmieds(Mario
BRAZITZOV), Kedril/Stimme (Gijs VAN DER LINDEN) und Don Juan (Jean-Gabriel
SAINT-MARTIN) fiel keiner groß auf. Die Rollen der Dirne und des jungen
Sträflings waren kurzerhand gestrichen worden.
Auch
Adrian THOMPSON als der große Sträfling ist mir nicht weiter in Erinnerung
geblieben; sein Gegenspieler, der kleine Sträfling (Enric MARTINEZ-CASTIGNANI)
war im Streit der Beiden noch unauffälliger, am Ende des zweiten Akts
beherrschte er dann aber die Bühne. Auch zu Cerevin (Philip SHEFFIELD)
und Cekunov (Peter LONGAUER) weiß ich leider nicht mehr zu sagen.
Rémy
CORAZZA als der alte Sträfling zeichnete sich durch alle durch eine auffällig
kräftige Stimme auf. Guy DE MEY als Šapkin lieferte von musikalischer
Seite eine schöne Leistung ab, blieb mir aber schauspielerisch kaum im
Gedächtnis.
Martin
BÁRTA spielte seinen Šiškov (den Popen übernahm er auch noch) als halbverrückt
vor Verzweiflung. Eine ausgesprochen vielseitige Stimme ließ seine Erzählung
sehr lebendig wirken, wenn er die Rollen seiner Gesprächspartner übernahm.
Pascal
CHARBONNEAU als Aljeja gelang eine unglaubliche Charakterisierung der
Rolle. Sein Aljeja schien gegenüber Gorjancikov zu schwanken zwischen
einem Kind, das einen Beschützer sucht und einem jungen Erwachsenen, der
keinen solchen mehr brauchen möchte. Dazu kam, daß Charbonneaus Aussehen
einfach in so eine Oper paßt. Wo findet man solche halb verhungert aussehenden
Sänger?
Nicolas
CAVALLIERs Gorjancikov hinterließ einen noch stärkeren Eindruck. Allein
wie er die Bühne betrat und sich zwischen den Sträflingen umsah, voller
Unverständnis, als könne er nicht glauben, daß dies mit ihm passiert.
Er tat mir bereits leid, ehe er nur den Mund geöffnet hatte. Als er dies
dann tat, bekamen wir eine tiefe, sanfte Stimme zu hören. Im Gegensatz
zu den meisten Gorjancikovs ist Cavallier laut Programmheft ein Baß, und
ich fand diese Entscheidung gelungen.
Es
bleibt mir noch Peter STRAKA als Luka Kuzmic. Straka hat bei beiden Malen,
die ich ihn bisher in dieser Oper sehen durfte, einen großartigen Eindruck
gemacht, und auch dieses Mal hat er mich absolut nicht enttäuscht. Als
Luka beherrschte er die Bühne, selbst wenn er eigentlich nicht die metaphorische
erste Geige spielte. Seine Stimme ist so kraft- und klangvoll wie gewohnt,
und wenn er dann das Liedfragment, das Luka im zweiten Akt singt, so sanft
und sehnsüchtig… Auch sein Schauspiel konnte mich unglaublich mitreißen.
Ein besonders gelungener Moment verdient es, nacherzählt zu werden: Nachdem
Luka im ersten Akt seine Geschichte mit den Worten "Ich dachte, ich würde
sterben" beendet, und ihn der alte Sträfling fragt "Und bist du gestorben?"
erinnerte Strakas Reaktion an die eines Witzeerzählers, der seinem Publikum
den Witz erklären muß…
Jedem,
der für diese Oper etwa übrig hat, sei diese Aufführung wärmstens empfohlen.
Ich hoffe sehr, daß es einmal eine Videoaufnahme geben wird, da es wirklich
schade wäre, wenn diese Inszenierung im Nirgendwo verschwinden würde!
NG
|