"VOLO DI NOTTE"/"IL PRIGIONIERO" - 17. Mai 2012

Wenn ich von einer Oper Albträume bekomme, dann ist das zumindest ein Beweis, daß es sich um einen eindrucksvollen Abend handelte. Aber wenn ich mir meine abgekauten Fingernägel ansehe, dann wünsche ich mir fast die Handlungsstränge der romantischen Oper zurück. Ich muß zugeben, daß es sich um meine erste Erfahrung mit Zwölftonmusik in der Oper handelt, aber diese Musik scheint für Spannung geradezu wunderbar geeignet zu sein.

Bei den Opern handelt es sich um zwei Einakter; "Volo di notte" (Nachtflug) basiert auf dem gleichnamigen Roman von Antoine de Saint-Exupéry und handelt von Rivière, dem Leiter eine Kurierfluggesellschaft, der im Namen des Erfolgs und des technischen Fortschritts Nachtflüge einführt und seine Piloten trotz eines aufziehenden Sturms starten läßt. Den frisch verheirateten Fabien kostet dies das Leben; sein Absturz wird von Rivière und seinen Angestellten per Funk mitverfolgt. Trotzdem will dieser nicht einlenken und hält an seinen Methoden fest.

Die Handlung von "Il prigioniero" (Der Gefangene) stammt aus Auguste Villier de l'Isla-Adams Geschichtensammlung "Nouveaux contes cruels" (Neue grausame Geschichten), genauer aus der Geschichte "La torture par l'espérance" (Die Folter durch Hoffnung), in der einem zum Tode verurteilten Gefangenen durch den Kerkermeister scheinbar Hoffnung auf Flucht gemacht wird. Diese endet jedoch direkt außerhalb der Mauern des Gefängnisses. Der Gefangene erkennt, daß diese falsche Hoffnung die letzte Folter war, die man ihm vor seiner Hinrichtung antat, und läßt sich gebrochen zum Scheiterhaufen führen.

Die Inszenierung der beiden Opern (Keith WARNER) hat wenig miteinander gemein. "Volo di notte" spielt in einem Bühnenbild (Kaspar GLARNER), daß Flugplatz, Funkturm und Rivières Büro geschickt vereint. Eine Bucht mit direkt dahinter beginnender Berglandschaft als Hintergrund zeigt, in verschiedenen Farben beleuchtet, die Tageszeit und Wetterlage. Sich langsam nähernde Scheinwerfer deuten das landende Flugzeug an; ein Effekt, der wirklich gut funktioniert hat. Das Fragwürdigste an der Inszenierung ist noch, daß alle Personen stellenweise Vogelkopf-Helme aufsetzen (Kostüme: Nicky SHAW) , vor allem, wenn sie Rivière kritisieren wollen. Da der einzige Vogelkopf, den ich sicher identifizieren konnte, zu einem Pinguin gehörte, sollte Rivière wohl als flugunfähig bezeichnet werden. Trotzdem will mir nicht so ganz in den Kopf, was diese Köpfe da zu suchen hatten.

Aufregender ist da schon die Inszenierung von "Il prigioniero". Die Bühne wird nur selten ganz gezeigt; die halbzugezogenen Vorhänge begrenzen seitlich und von oben die Sicht. Dahinter ist meist nur ein weißer Raum mit einem Loch in der Decke zu sehen. Es beginnt also im Haus der Mutter; ein Sofa, ein Stuhl, der Fernseher läuft, und die Glühbirne brennt. Wie bei einem Bild mit nur einigen kubistischen Elementen fällt erst auf den zweiten Blick (oder noch später) auf, daß das Sofa zwei-dimensional ist. Es ist einfach nur auf eine Pappe gemalt. Selbiges gilt für die Glühbirne. Beim Stuhl (der auf seinen zwei vorderen Beinen balanciert) und dem Fernseher war ich mir bis zum Schluß nicht sicher. Eine Tür führt in die Zelle des Gefangenen - die bis auf Sofa und Fernseher genau so aussieht. Insgesamt folgen mindestens elf solcher Räume aufeinander (könnte mich verzählt haben). Der Kerkermeister führt den Gefangenen wie in dessen Fantasie durch die angrenzenden Räume, während er ihm von der Rebellion gegen den König und die Inquisition erzählt. Die Räume beinhalten in diesem Fall überdimensionale Gegenstände, die mit der Erzählung zusammenhängen; wenn der Gefangene sie jedoch später durchschreitet enthalten sie einen Friedhof, einen elektrischen Stuhl und einen Tisch und zwei Stühle. Auch wieder erst das genauere Hingucken zeigt, daß die in dieser Szene anwesenden Priester vor und nicht etwa auf den Stühlen sitzen. Daß es sich bei den Stühlen um zweidimensionale Objekte handelt, verrät er Gefangene leider in dem er sie umstößt. Schade, ich hätte gerne weiter gerätselt. Ohne, daß ich es genau erklären kann, ist der labyrinthische Eindruck stark und erhöht die Spannung - was mir schon kaum mehr möglich schien…

Über das Orchester (musikalische Leitung: Lothar ZAGROSEK) sowie den Chor (Michael CLARK) fällt es mir wirklich schwer etwas zu sagen. Die noch ungewohnte Zwölftonmusik läßt so vieles nach Fehler klingen, was wahrscheinlich keiner war, weswegen ich mich auch mit Äußerungen dieser Art über die Solisten zurückhalten werde. Überhaupt fällt es mir sehr schwer die musikalische Qualität des Abends zu beurteilen.

Florian PLOCK als Robineau überträgt die Schüchternheit seiner Rolle scheinbar ein wenig auf seinen Gesang - er ist häufiger (nicht immer) zu leise und wird vom Orchester übertönt. Ganz anders sein Freund Pellerin, dessen stürmische Erzählung Michael McCOWN mit mitreißender Begeisterung vorgetragen wird. Weder Dietrich VOLLE als Leroux, noch Pere LLOMPART, Pavel SMIRNOV, Francisco BRITO und Sungkon KIM als vier Beamte oder TAINA PIIRA als eine Stimme aus der Ferne fielen mir besonders auf. Peter MARSH stand als der Funker auf einem hohen Turm und war daher meist eher schlecht einzusehen, aber seine beeindruckend volle Stimme fiel doch auf.

Lionel LHOTE als Rivière stellte dessen moralischen Konflikt überzeugend dar und setzte mit erstaunlicher Geschwindigkeit die imaginäre Maske auf, sobald andere Personen anwesend waren. Auch er fiel mit einer beeindruckend wohlklingenden und kräftigen Stimme auf.

Marion AMMANN sang als Signora Fabien und die Mutter als Einzige größere Rollen in beiden Opern - Volle und McCown, die auch die Priester übernahmen, blieben als solche eher unauffällig. Diese Entscheidung ist aufgrund der Ähnlichkeiten der Situation der beiden Rollen leicht nachzuvollziehen. Trotzdem gelang es Ammann, die zwei zu trennen und Signora Fabien eher schüchtern und verängstigt, die Mutter am Rande von hysterisch darzustellen. Passend zum Schauspiel überzeugt sie auch sängerisch.

Robert HAYWARD spielte in der zweiten Oper einen verängstigten Gefangenen, aber seine Darstellung zeigte auf angenehm subtile Weise, daß es ihm in den Händen der Inquisition wohl nicht besonders gut ergangen war. Auch sein Gesang hat etwas Eingeschüchtertes, ohne dadurch kraftlos zu wirken.

Etwas an die Wand gesungen wurde er durch den ekelhaft undurchsichtigen Kerkermeister bzw. Großinquisitor, alias Jeffrey FRANCIS. Sicherlich hat dieser in den gemeinsamen Szenen etwas mehr Gelegenheit dazu, aber ihm gelingt auch die Darstellung der Gemeinheit seiner Rolle noch etwas besser. Und das wiederholte "Fratello" aus seinem Mund war schließlich allein ein Grund für Gänsehaut.

Als "angenehm" konnte man diesen Abend sicherlich nicht bezeichnen. Zu anstrengend die Musik, zu verängstigend die Themen und zu nervenaufreibend die Kombination. Aber spannend und beeindruckend war es wie wenig andere Opern und ich werde ohne zu zögern die nächste Zwölftonoper ausprobieren, die mir über den Weg läuft. NG