Britten
hatte bereits vor seinem ersten Erfolg mit "Peter Grimes" im Juni 1945
beschlossen, eine Kammeroper zu schreiben. Er beschäftigte sich schon
seit einiger Zeit mit der Musik der englischen Madrigalisten des 16. und
17. Jahrhunderts. Wie auch anderswo, war eine Tendenz "back to basics",
d. h. zu den antiken Wurzeln, sehr gefragt, wie Orff, Casella, Malipiero,
Respighi, Poulenc. Das hat sich in Brittens "Lucretia" niedergeschlagen
und auch später in seinen anderen Kammeropern ("The Turn of the Screw",
"Curlew River", "Owen Wingrave" etc.). Die madrigalistische Art spiegelt
sich auch in der Behandlung der Ensembles nieder, die sehr "tonal" sind
- wie das harmonische "Good Night" Sextett am Ende des 1. Akts. Bisweilen
monodische Passagen und unisono Ensembles und der essentiell deklamatorische
Gesangstil, sowie die äußerst sparsame, sehr prägnante und charakterisierende
Instrumentierung (13 Instrumentalisten), ergeben ein sehr dichtes und
packendes Werk. Besonders die instrumentalen Zwischenspiele sind von außergewöhnlicher
Dichte.
1946
wurde die Oper in Glyndebourne (mit - und für - Kathleen Ferrier in der
Titelrolle) uraufgeführt und war auch 1950 bei den Salzburger Festspielen
zu sehen (aber mit Elisabeth Höngen).
Das
Libretto des englischen Dichters Ronald Duncan ist allerdings etwas mühsam,
obwohl der Text teilweise sehr poetisch ist. Nach einem Theaterstück des
französischen Schriftstellers André Obey (von 1931), überspringen die
Autoren die Zeitspanne zwischen ca. 500 v. Chr. und der Zeit Christi.
Dies funktioniert mittels eines "antiken Chors" (bestehend aus einem Tenor
und einer Sopranistin), der im Prolog die Vorgeschichte erklärt und dann
die Vorgänge beschreibt, aber auch die Gefühle, Selbstgespräche und Marotten
der Personen ausdrückt und daher eine tragende Rolle spielt. Die Tenorpartie
war für Peter Pears geschrieben.
Allerdings
ist im Libretto mindestens ein Aspekt dabei eher zweifelhaft. Der böse
Tarquinius Superbus, der 7. und letzte (etruskische) König von Rom, regierte
von 535 bis 509 v. Chr. Von Livius wurden die Untaten des sagenumwobenen
Tyrannen überliefert. Im Prolog singt die weibliche Coryphée eine sehr
poetische, aber sehr gewagte Phrase: "This Rome has still five hundred
years to wait / Before Christ's birth and death from which Time fled /
To you with hands across its eyes. But here / Other wounds are made, yet
still His blood is shed." Nicht nur, daß die Christen im Rom des 1. und
2. Jhdts. eine kleine Gemeinde waren (der sehr viel schreibende Apostel
Paulus schrieb nur einen einzigen Brief an die Römer) und wenig öffentlichen
Einfluß hatten, wurden sie von den Cäsaren verfolgt und dienten meist
als Prügelknaben für alle Übel, die Rom befielen und wurden dafür verantwortlich
gemacht. Was meistens damit endete, daß ein Dutzend Christen im Kolosseum
den Löwen vorgeworfen wurden.
Auch
die Identifizierung Lucretias als eine christliche Leidensfigur ist sehr
gewagt, was zu pietistischen Ausbrüchen führt, die 100 Jahre vorher Gounod
oder Fauré nicht gescheut hätten. Lucretia ist wohl eher eine kompromiß-
und zeitlose Moral-Figur des Widerstands gegen jegliche Gewalt (Britten
war Pazifist und verbrachte den Krieg im Exil in USA). Lucretia als christliche
Leidensfigur darzustellen und eine Verbindung mehr als 500 Jahre vorher,
ist wohl bei den Haaren herbei gezogen. So hängt der - sehr schöne und
ergreifende - Schlußgesang der weiblichen Coryphée "Is it all? Is all
this suffering and pain / Is this in vain?" irgendwie in der Luft. Denn
das vom Prädeterminismus beeinflußte Libretto führt unweigerlich zu dem
fatalistischen verzweifelten Trauer-Schluß: "Now with worn words and these
brief notes we try / To harness song to human tragedy."
Trotzdem
war es eine gute Idee der Angers-Nantes-Opera die Produktion des Flandrischen
Opernstudios einzuladen, die zwar schon aus dem Jahre 2000 stammt, aber
sehr packend und gelungen ist. Daß die Inszenierung dem Regisseur Carlos
WAGNER anvertraut wurde, war ein Gewinn, denn er ließ die genannten Zeitensprünge
schlicht und einfach fallen. Er hatte sich sichtbar den Figuren der Handlung
angenommen und durch eine ausgezeichnet Personenführung sehr treffend
charakterisiert. Er wurde dabei durch die Arbeit von Conor MURPHY glänzend
unterstützt, der für den einfachen Dekor und passenden Kostüme zeichnete.
Vertikale oder horizontale Lamellen-Vorhänge (oder beides) dienten als
Hintergrund für die verschiedenen Szenen. Die Beleuchtung von Peter VAN
PRAET war genau richtig, beängstigend wie in der fast stummen Szene, wenn
Tarquinius in Lucretias Gemach eindringt, abschreckend die sechs grellen
ins Publikum gerichteten Scheinwerfer der Szene der Vergewaltigung, oder
tief ergreifend die Aufbahrung Lucretias auf ihrem Webstuhl.
Die
musikalische Leitung hatte ein beliebter Gast in Nantes, Mark SHANAHAN
inne. Er wußte das kleine ENSEMBLE DA CAMERA mit Umsicht zu leiten und
die sehr komplexe, aber differenzierte Partitur herauszuarbeiten. Der
Ritt Tarquinius' vom Lager nach Rom und die Überquerung des Tiber wird
einzig von Schlagzeug sehr dezent begleitet: man konnte buchstäblich die
Hufe des Pferdes hören, nur durch die große Trommel und einige Schläge
aufs Becken; sehr beängstigend.
Die
Titelrolle der Lucretia spielte die Französin Delphine GALOU sehr überzeugend
und intensiv, doch ist ihre Stimme nicht genügend "Alt". Diese für die
dunkle Bronzestimme von Kathleen Ferrier geschriebene Rolle bedarf eine
voll tragende Tiefe. Dieses Stimmregister scheint nur mehr in Osteuropa,
besonders in Rußland, vertreten zu sein. Dafür beeindruckte der Sänger
ihres Gatten, General Collatinus. Der junge Baß Jean TEITGEN steuerte
seine hünenhafte Statur, sehr intensives Spiel und einen prächtigen, ausdrucksvollen
basso profondo für die schwierige Rolle bei.
Der
englische Bariton Benedict NELSON war der geile, zügellose Tarquinius,
nicht nur darstellerisch ausgezeichnet, sondern bot auch dank seines warmen
Charakter-Baritons und seiner hervorragenden Diktion eine perfekte gesangliche
Wiedergabe. Armando NOGUERA war der zweite General Junius und setzte seinen
angenehmen Tenor bestens ein, um am Ende zum Aufruhr gegen die etruskische
Besatzung zu rufen.
Die
beiden Coryphéen Robert MURRAY und Judith VAN WANROIJ, links vorne auf
einer kleinen Estrade sitzend, trugen zu Beginn eine Augenbinde, daß man
im Halbdunkel glauben konnte, daß sie antike Masken trugen. Während der
Tenor Robert Murray durch seine wohllautende Stimme und seine gute Aussprache
auffiel, war die Stimme von Judith van Wanroij weniger passend, zumal
sie in den Höhen ins Schreien kam. Außerdem war die hier sehr wichtige
Diktion auch nicht sehr gut, obwohl die Holländerin als Oratorien-Sängerin
sehr geschätzt ist, besonders für Händel. In den Rollen der beiden Dienerinnen,
denen die Blumen vom Himmel fallen, war die junge Svetlana LIFAR eine
jugendlich-fröhliche Lucia und Katherine MANLEY die besorgte Amme Bianca
mit angenehmem Mezzo.
Am
intensiven und lautstarken Schlußbeifall bezeugte das Publikum den großen
Erfolg für dieses anspruchsvolle Werk. Bravo! wig.
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