2008
wurde das Wexford Opera House als eine Vergrößerung des winzigen Theatre
Royal eröffnet, das über 50 Jahre lang als Spielplatz für das Festival
diente. Der Zuschauerraum leidet zwar nach wie vor an Platzmangel, denn
das Theater wurde zwar auf stolze 771 (!!) Plätze aufgestockt, mit zwei
Galerien, jede mit weniger als 40 Sitzen. Dafür wurde der Bühnenraum erheblich
vergrößert und mit allen technischen Möglichkeiten ausgestattet. Denn
im alten Theatre Royal traten sich die Sänger buchstäblich auf die Füße.
Die Atmosphäre des Zuschauerraums in mehrfach schattierter Holz-Täfelung
ist optisch sehr angenehm, was einen intimen und warmen Eindruck ergibt.
Nach wie vor wird vor jeder Vorstellung die irische Nationalhymne vom
Publikum stehend auf gälisch gesungen und vom vollen Orchester begleitet.
Vorsichtshalber läuft die Übertitelung des gälischen Texts oberhalb der
Bühne...
Wir
verbrachten drei sehr schöne und erfreuliche Abende in Wexford - noch
dazu ausnahmsweise bei sehr schönem Wetter. Mehrere Kammeropern (mit Klavier-Begleitung,
ich sah "La Serva padrona" von Pergolesi), Lieder- und Arien-Konzerte
zu Mittag in der Kirche Sankt Iberius, sowie abendliche Chor- und Orchesterkonzerte
komplettierten das Programm. Wie gewohnt, machte man Bekanntschaft mit
ausgezeichneten jungen Sängern und Dirigenten (viele heute sehr bekannte
Künstler haben in Wexford ihr internationales Debüt gemacht) und - vor
allem - sieht man völlig unbekannte Opern. Wexford ist zwar County-Sitz,
aber nur eine Kleinstadt mit etwas mehr als 18.000 Einwohner. Wo gibt
es so etwas noch? Und das seit 1951! Beispielhaft! Zumal die Opernkrise
in Irland akut ist, denn die "Opera Ireland" in Dublin hat mit "Tosca"
im November zugesperrt.
Die
meisten der - meist sehr interessanten - Opern werden seit dem 50. Festival
2001 auf CD unter verschiedenen Labels, wie Naxos, Fonè, Marco Polo und
Supraphon eingespielt. Ich habe mir um je 10 € zwei Doppel-CDs von Dvoraks
"Jakobín" (den ich vor ein paar Jahren hier gesehen habe) und Jaromír
Weinbergers "Švanda Dudák" im Foyer des Theaters geleistet. Jedem Liebhaber
von Raritäten sehr zu empfehlen!
Saverio
Mercadante (1795-1870) war nach Rossini, Donizetti, Bellini und Verdi
der bei weitem bekannteste und erfolgreichste Komponist Italiens seiner
Zeit (57 Opern und mehrere Flötenkonzerte). In den letzten Jahrzehnten
ist es - außer in Wexford - aber sehr still um den Meister aus Apulien
geworden. Von seinem nur drei Jahre älteren Landsmann Rossini sehr gefördert
hat Mercadante vor allem für das San Carlo in Neapel, La Scala in Mailand
und La Fenice in Venedig gearbeitet. Mercadante hat aber auch in vielen
anderen Städten Europas, gewirkt, u. a. in Lissabon und Paris, wo seine
Oper "I Briganti" in Starbesetzung (Grisi, Rubini, Lablache) 1836 zur
Uraufführung kam. In Paris lernte er Meyerbeer und Halévy kennen und war
vor allem von "La Juive" sehr beeindruckt. Nebenbei hat Mercadante auch
in Wien bereits großen Erfolg gehabt, denn im Herbst 1824 hatte er es
zusammen gebracht, in vier Monaten nicht weniger als drei Opern zu komponieren
und im Kärntnertor-Theater uraufzuführen!
Das
Wexford Festival ist eine Ausnahme, denn dies ist bereits die 5. Oper
Mercadantes, die hier gespielt wird. 1988 hatte ich bereits dessen ersten
großen Erfolg "Elisa e Claudio" (Scala 1821) gesehen. Seither wurden "Elena
da Feltre" (San Carlo 1839), "Il Giuramento" (Scala 1837) und "La Vestale"
(San Carlo 1840) aus der Versenkung geholt. Diesmal wurde Mercadantes
letzte Oper "Virginia" dem Publikum wieder vorgestellt. 1849/51 auf ein
Libretto von Salvatore Cammarano (Librettist vieler Opern Donizettis und
Verdis) komponiert, wurde diese aber erst am 7. April 1866 im Teatro San
Carlo mit Lotti, Pandolfi, Mirate und Stighelli uraufgeführt. Man darf
nicht übersehen, daß diese neapolitanische Uraufführung vor dem greisen,
blinden Meister zwischen "Tristan" (1865) und "Don Carlo" (1867) fällt
und selbst zur Zeit der Komposition (1851) waren "Lohengrin" und "Trovatore"
bereits aufgeführt worden. Die Zeit des Belcantos war schon seit einiger
Zeit vorbei, und Rossini hatte sich bereits 1829 nach "Guillaume Tell"
zurück gezogen und kochte nur mehr oder schrieb nur mehr seine "Alterssünden"
("Péchés de vieillesse"). Mercadante hatte ja selbst erheblich zum Ende
des Belcantos beigetragen. Musikalisch ist diese Oper trotzdem noch dem
Belcanto verpflichtet und "Virginia" in vieler Hinsicht eine Kuriosität,
denn die klassische Form ist meistens aufgeblättert. Zahlreiche Arien,
Kavatinen, Duette etc. beginnen wie in einer Oper der 1820er Jahre, doch
das Stück wird oft nicht fertig gesungen, denn bereits ein neues Geschehen
unterbricht es. So denkt man öfters bereits an den Verismus wie bei Mascagni,
Leoncavallo, Giordano und natürlich Puccini. Die Oper ist "durchkomponiert"
und zahlreiche, bisweilen sehr brillante Ariosi bringen die Handlung weiter
- was nicht hindert, daß die Oper dreieinhalb Stunden dauert (mit zwei
Pausen).
Ein
weiterer Aspekt des Werks ist die Größe und Besetzung des Orchesters.
Zwischen 1825 und 1850 haben sich die Orchester massiv vergrößert und
sind lauter geworden, woran Wagner und Berlioz, aber auch Meyerbeer, Halévy
und Verdi nicht unbeteiligt waren. Die Rollen sind deshalb auch viel dramatischer
geschrieben als selbst in den Tudor-Opern Donizettis. Die Titelrolle ist
nicht nur ein Soprano dramatico di agilità der Zeiten der Malibran, Falcon
oder Grisi, sondern mit den großen Verdi-Heroinen vergleichbar, wie Abigail,
Amelia, Desdemona oder den zwei Leonoren.
Die
Geschichte des Dramas "Virginia" von Vittorio Alfieri (1749-1803), dem
Vater der italienischen Tragödie, beruht auf einem Bericht im 3. Buch
der "Geschichte Roms" von Titus Livius. Cammarano hat diese einigermaßen
blutrünstige Geschichte in ein höchst dramatisches Libretto umgesetzt.
Die Handlung spielt 451 v. Chr. während dem 2. Mandat des tyrannischen
Konsuls und Decemvir Appius Claudius Crassus, eine sagenumwobene und zwiespältige
Figur. Das politische System war de facto eine königliche Autokratie,
obwohl die Konsuln nur auf fünf Jahre aus der Schar der zehn Decemvirs
gewählt wurden. Appius Claudius gab sich zwar "demokratisch", indem er
wieder einen Volkstribun einsetzte, verbot aber die Heirat zwischen Patriziern
und Plebejern. Er war aber unklug, sich in Virginia - eine Plebejerin,
Tochter des Berufssoldaten Virginio - zu verlieben. Doch Virginia liebt
Icilio - eben den von Appius Claudius nominierten Volkstribun. Appio versucht
mit Hilfe seines Handlangers Marco, Virginia zu überreden, seine Geliebte
zu werden. Doch diese will absolut nicht, auch Drohungen nützen nichts.
Die Oper endet schließlich mit drei Toten.
Etwas
bedauerlich an der Aufführung war die Lautstärke des sehr gut spielenden
ORCHESTRA OF THE WEXFORD OPERA FESTIVAL, die der venezolanische Dirigent
Carlos IZCARAY vorlegte, der zwar die Steigerungen der dramatischen Handlung
passend herausstrich, aber dachte, daß er im San Carlo dirigierte. Das
hatte zur Folge, daß die durchwegs sehr guten Sänger viel zu laut sangen
und oft erhebliche Schwierigkeiten hatten die Orchesterflut zu bewältigen.
Eine Ohrenweide war dafür der CHOR, von Altmeister Lubomir MATL, dem Leiter
des Prager Kammerchors, der zwei Drittel der Choristen stellt, absolut
perfekt einstudiert. (Matl leitet im Sommer auch den Chor des Rossini-Festivals
in Pesaro.)
Allen
voran litt an der Lautstärke die ausgezeichnete, junge, etwas vollschlanke
Amerikanerin Andrea MEADE, die bereits an der Met als Elvira in "Ernani"
eingesprungen ist. Das hinderte sie nicht, ihre zahlreichen Arien und
Ensembles mit fulminanten Koloraturen und die großen Chorszenen mit dominierendem
Sopran brillant zu meistern. Den bösen Appio Claudio spielte der Sizilianer
Ivan MAGRI als fiesen machtbesessenen Tyrannen, der vor keiner Gemeinheit
zurück schreckt. Sein schöner, gut geführter Tenor, in der Art der dramatischen
Tenöre Rossinis, litt ebenso an den brausenden Orchesterwogen. Ein spezieller
Fall ist der 2. Tenor Icilio, die von Mirate kreierte Rolle, dem der Portugiese
Bruno RIBEIRO seine Stimme lieh. Er ist eher ein hochgedrückter Bariton,
denn seine Tiefe und Mittellage sind sehr angenehm und gut geführt, während
seine Höhen zwar heldisch, aber gestemmt wirken.
Als
Vater Virginio zog sich Hugh RUSSEL am besten aus der Affäre. Sein prächtiger
Charakterbariton war für diese Vaterrolle ideal. Mit ausgezeichneter Phrasierung
sang er die lyrischen Stellen - besonders das Duett mit seiner Tochter
im 3. Akt mit Englischhorn-Solo, wo das Orchester etwas diskreter war
- mit großer Dichte und Überzeugung, aber ebenso mächtig und durchschlagend
in den vielen dramatischen Szenen, vor allem am Schluß in der Verfluchung
Appios. Seine Verkörperung des von Appio verfolgten und gepeinigten Vaters
war erschütternd. Weniger Mitleid hatte man mit Marco, ein widriger, kaltblütiger
Bösewicht, dem Gianluca BURATTO mit mächtigem basso profondo eine sehr
passende Gestaltung verlieh, der blindlings seinem tyrannischen König
folgt, ein widerlicher Spoletta-Typ.
Der
Regisseur der Aufführung Kevin NEWBURY und sein Bühnenbildner (auch Kostüme)
Allen MOYER hatten gleich zu Beginn klar gemacht, daß die Handlung nicht
vor über zwei Jahrtausenden spielt, sondern in unserer Zeit. Dies ist
meist wirklich gelungen, da Korruption und Mord auch heute üblich sind,
selbst in angeblichen Demokratien. Der Zeitenwechsel findet bereits in
der 1. Szene statt. Beleuchtet wurde das ganze Geschehen sehr treffend
von Christopher AKERLIND.
Es
beginnt mit einem obszönen Fest - im Stil des "Satyricon"-Films von Fellini
- bei dem die Ermordung des vorherigen Konsuls Tarquinius und die Erneuerung
der "Demokratie" gefeiert wird. Während Appio Claudio zum neuen Konsul
gekürt wird, nehmen drei goldene, nur mit Weintrauben bekleidete Epheben
die Chorszene ein (Choreographie: Sean CURRAN). Stier-Köpfe zieren den
oberen Teil der Szene (Anspielung an den Mithras-Kult? - der war allerdings
500 Jahre später), die während der ganzen Oper zu sehen sind. Während
der Orgie zieht auf der oberen Bühne ein Trauerzug des beliebten ermordeten
Volkshelden Dentatus vorbei. Dieser Zug kommt schließlich auf die untere
Bühne, und das Begräbnis findet statt. In diesem Moment verwandelt sich
die Bühne in die Neuzeit: Appio erscheint in grauem Anzug, Marco und die
Häscher ebenso, mit schwarzen Ray-Bans, der Festchor wird ein Trauerchor.
Marco raunt seinem Herrn zu, daß seine Versuche gescheitert sind, bei
Virginia für ihn Gefühle zu erwecken.
Die
2. Szene findet in der modernen Küche Virginias statt, die den Tod ihrer
Mutter beweint. Ihre Freundinnen trauern mit ihr, und sie vertraut ihnen
in einer großen Arie ihre Liebe für Icilio an. Sie hat gerade noch Zeit
ihre Freundin Tullia, die Marcella WALSH mit hübschem Mezzo darstellte,
zu bitten, den Vater im Lager vor Rom zu holen. Da erscheint Appio und
erklärt ihr seine Liebe, doch sie weist ihn schroff zurück.
Der
2. Akt beginnt ebenfalls in der Küche, wo Virginio sich freut seine Tochter
zu finden, doch ist er einigermaßen überrascht und nicht sonderlich erbaut
zu erfahren, daß Appio sich für sie interessiert. Der Vater rät sofort,
Icilio zu heiraten und stürmt mit seinem Vetter Valerio, dezent und passend
von John MYERS dargestellt, in den Hymen-Tempel, um die Hochzeit vorzubereiten.
Die Hochzeit - in einer katholischen Kirche im typisch geschmacklosen
Stil von 1870, mit Virginio in großer Offizier-Uniform - wird jähe von
Appio, Marco und der Prätorianer-Garde (in Paradeuniform mit Tschako!)
unterbrochen. Marco erklärt, daß Virginia die Tochter eines seiner Sklaven
sei und der Frau Virginios untergeschoben wurde, die eine Totgeburt gehabt
hätte, was Virginio natürlich heftig und lautstark bestreitet. Es gibt,
wie zu erwarten, große Aufregung über den unerhörten Vorwurf und der Akt
endet mit einem großen Ensemble, in dem die Stimme Virginias alles übertönt
- nur mit den großen Ensemble-Szenen von "Don Carlo" oder "Otello" vergleichbar.
Appio kündigt die Gerichtssitzung für drei Tage später an.
Im
3. Akt kommt Marco in Appios Wohnung und berichtet, daß er neun Plebejer
bestochen habe, um seine Behauptung zu unterstützen. Während dessen will
Appio versuchen, Icilio aus Rom zu entfernen, indem er ihn zum Prätor
ernennt - was ein Patrizier-Privileg war. Falls das mißlänge, soll Icilio
einfach ermordet werden. Natürlich weist Icilio die Ernennung zurück -
Appio tobt. Das langsam beginnende Duett zwischen den beiden Tenören steigert
sich zu einem der Höhepunkte der Oper, wo Ivan Magri und Bruno Ribeiro
zeigen konnten, was ihre Stimmbänder hergeben können. Das erinnert in
Wucht, Haß und Steigerung an das Vendetta-Duett zwischen Uberto und Rodrigo
in Rossinis "La Donna del Lago". In der vorletzten Szene nach dem prachtvollen
Duett an die Hausgötter eilen Virginio und seine Tochter zum Forum, denn
sie haben eben von der Ermordung Icilios erfahren. Virginio will Appio
zur Rechenschaft ziehen.
In
der äußerst dramatischen Schlußszene auf dem Forum wird die Klage Marcos
von Appio als gerechtfertigt erklärt, und er stellt die neun gekauften
Zeugen vor, was große Bestürzung im Volke auslöst. Als Virginia an Marco
ausgeliefert werden soll, erbittet ihr Vater die Gnade sie noch einmal
umarmen zu dürfen. Die Bitte wird gewährt und vor Appio und seiner Clique
und dem ganzen Volk Roms ersticht Virginio während seiner Abschiedsarie
seine Tochter, und die Oper endet mit dessen Fluch: "Appio, il tuo capo
sacro all' Averno con questo sangue!" Hugh Russel konnte hier alle Register
seiner Kunst zeigen. Der Chor antwortet nur: "Obbrobrio eterno e morte
ad Appio!" Die Oper endet mit der Ermordung Appios durch die römische
Plebs, was historisch falsch ist, denn Appio wurde - laut Livius - zum
Selbstmord gezwungen.
Großer
Applaus für alle Künstler. Ein etwas zwiespältiger Eindruck - wegen der
Orchesterflut - für ein höchst interessantes Werk, das zwischen zwei musikalischen
Epochen steht. wig.
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