Die
"International Tour" anläßlich des 25. Jahrestages von Boubils und Schönbergs
Musical "Les Miserables" machte auch Station in Edinburgh. So ergab sich
eine gute Gelegenheit für ein weiteres Live-Erlebnis.
Die
Inszenierung (Laurence CONNOR + James POWELL) unterscheidet sich stark
von der im Londoner West End gespielten. Sie gibt dem Stück einige neue
Impulse, doch dazu später mehr.
John
OWEN-JONES ist einer der meist gepriesenen Darsteller Jean Valjeans, und
so waren die Erwartungen hoch. Der willensstarke, teilweise recht rüde
(Ex-) Sträfling am Anfang gelang ihm in der Charakterisierung dann auch
gleich so gut, daß zu befürchten stand, die Verwandlung von diesem zum
respektablen Bürgermeister würde mißlingen. Doch mitnichten, der Sträfling
auf Bewährung verschwand von der Bühne, und kurze Zeit später betrat John
Owen-Jones die Bühne als perfekte Inkarnation Madeleines. Jeder Lebensabschnitt
Valjeans fand hier die entsprechende Wiedergabe in Haltung, Darstellung
und Klang der Stimme. Ein kleines bißchen vermißte ich einzig Valjeans
Heiligkeit.
Neben
dieser gelungenen schauspielerischen Darbietung hörte man zudem eine stimmlich
ausgereifte Interpretation. Ich denke nicht, daß ich "Bring him home"
bisher derart perfekt gehört habe bzw. es noch einmal von jemand anderem
so hören werde. Diese Stimme ist mit einer erstaunlichen Bandbreite gesegnet,
klingt niemals scharf oder unsauber. Hinzu kommt eine unbändige Kraft,
die in den richtigen Momenten das Mikrofon unnötig macht, und die Fans
des Sängers in Ekstase versetzt. Trotz dieser enormen Stimmkraft paßt
die Stimme gerade auch zu den leisen, gefühlvollen Augenblicken der Partie.
Doch
Perfektion hin oder her. Mein Herz gehört, ob im Buch oder auf der Bühne,
dann doch stets Javert. Earl CARPENTERs Polizist unterscheidet sich von
dem anderer durch eine gewisse Form von Bodenständigkeit und Phlegma.
In einigen, besonders emotionalen Momenten hört man Javerts Herkunft heraus,
was Absicht oder nicht, einen sehr interessanten Blick auf den Hintergrund
der Figur gibt. Es fehlt jede Form von unnötiger Eleganz, obwohl dieser
gesetzestreue Ordnungshüter durchaus charmant wirken konnte, wenn es seiner
Sache diente. Grandios ist die Mimik und Gestik Carpenters, die das Gesehen
häufig deutlicher kommentiert als sein Text es vermag, und Javert ob dieser
zutiefst menschlichen Seite Sympathiepunkte bringt.
Earl
Carpenters Stimme ist sicher nicht die schönste der Welt, bietet aber
mit ihrem grollenden [Ich liebe das, was er mit dem "R" macht. ;-)], beinahe
rauchigen Klang einen guten Gegenpart zu der Owen-Johns. Sie klingt zudem
ausgesprochen charaktervoll und besitzt die perfekte Bandbreite an Klangfarben,
um sowohl "Stars" als auch Javerts Selbstmord zu musikalischen Höhepunkten
des Abends zu machen. Beeindruckend an diesem Abend war, daß nicht allein
die beiden Kontrahenten so gut besetzt waren, sondern die gesamte Besetzung
eine hochkarätige Leistung auf die Bühne brachte.
Madalena
ALBERTO gab Fantines Entwicklung mit viel Realismus und Gespür dafür,
was einer alleinstehenden Mutter in jener Zeit widerfahren sein mußte,
wieder. Vom Verlust der Arbeit über den der Unschuld wie des Stolzes bis
hin zur Konfrontation mit Bamatabois gab sie Stück für Stück etwas von
der ursprünglichen Persönlichkeit der Figur zugunsten eines emotionalen
Wracks auf. Es wurde nachvollziehbar, weshalb Fantine sich schließlich
erschöpft dem Schicksal, sich zu prostituieren, hingibt. Erst kurz vor
Fantines Tod kehrte ein Teil des anfänglich gezeigten Charakters zurück.
"I dreamed a dream" gab neben den üblichen romantischen Tendenzen in der
von Madeleine Alberto gesungenen Version auch viel von der (unterdrückten)
Wut auf den Mann, der Fantine sitzengelassen hatte, preis. Der im Sprechgesang
vorgetragene Beginn dieses Stücks war ein interessantes Gestaltungsmerkmal.
Katie
HALL hatte im vergangenen September in London einen höchst unerfreulichen
Eindruck hinterlassen. Diesmal jedoch besaß ihre Cosette so ziemlich alles,
was man sich wünschte - und vor allem eine Seele. Da war dieses heranwachsende
Mädchen mit teenagerhafter Emotionalität, das Marius mit Leichtigkeit
den Kopf verdreht und Valjean mit ihren bohrenden Fragen in Bedrängnis
bringt. Diese Wandlung in der Darstellung kam ihr auch stimmlich zugute.
Ihre Stimme hat viel an Ausdruck und Wärme gewonnen. Durchaus hörenswert.
Soviel
Selbstbewußtsein und Charakter harmonierten dann auch gut mit dem Schaf
von einem Marius wie ihn Gareth GATES spielte. Komplett rollenkonform
stolperte dieser Möchtegern Revolutionär über die Bühne. Wie das mit dem
Studium hier wohl geklappt haben mochte, war eine der Frage, die man sich
stellte. Vielleicht hätte er es mit Musik, statt Jura versuchen sollen,
denn er nennt eine hübsche Stimme sein eigen.
Eponine
klang in der Interpretation von Rose O'REILLY zum Teil sehr rotzig. Sicherlich
dies rollenkonform, aber ein wenig vermißte man doch die schwärmerischen,
gefühlsbetonten Augenblicke der Partie. Ihre vielseitig klingende Stimme
bietet Ausdruck und Raum für beides - das zornige Mädchen und den verliebten
Backfisch, der dann doch bei "A little fall of rain" zum Vorschein kam.
Durchweg
perfekt waren die Amis besetzt. Mit Christoph JACOBSEN gab es einen Enjolras,
der kein Stutzer, sondern tatsächlich Kopf der Studentenrevolte ist. Schwer
ist das nicht, denn er hat es nicht nötig, übermäßig mit hohen Tönen zu
protzen (die selbstverständlich tadellos klangen). Seine Stimme saß bei
jedem Ton einfach perfekt. David COVEY charakterisierte Grantaire nicht
allein als trinkfreudigen Mitläufer, der Enjolras überall, selbst in den
Tod folgt, sondern gab der Figur einen höchst emotionalen Charakter, so
als verstecke er seine Empfindsamkeit hinter dem übermäßigen Alkoholgenuß.
Sein heftiger Ausbruch nach Gavroches Tod war unglaublich beklemmend.
David
LAWRENCE machte nicht nur als Lesgles, sondern mehr noch als Bishop of
Digne eine ausgesprochen gute Figur. Seine Stimme klingt hörbar nach Oper,
ein sauber geführter Bariton mit wirklich schönem Klang.
Hatte
man sich von der Sprachbehandlung generell nicht des Eindrucks erwehren
können, daß Frankreich seit neustem eher eine Gegend im nördlichen England
ist, gab Adam LINSTEAD als Thenardier diesem Gedanken neue Nahrung. Um
die Schicht zu charakterisieren, in der der Wirt sich bewegt, war das
natürlich perfekt. Hinzu kamen eine einwandfreie vokale und darstellerische
Interpretation ohne die manchmal üblichen Übertreibungen in die extrem
gefährliche oder überkomische Richtung. Das Gefährliche an diesem Thenardier
war, daß man ihn eigentlich mochte. Lynne WILMOT ergänzte hier ebenso
gut. Sie spielte Madame Thenardier dem Charakter entsprechend ordinär,
laut und gierig. Vokal bringt sie den passenden Gossenjargon gut mit ihrer
eigentlich angenehm timbrierten Stimme in Einklang.
Carl
MULLANEY sang einen rollenkonform widerlichen Bamatabois und Jonathan
ALDEN einen unangenehm rüden Factory Foreman. In Thenardiers Gang zeigte
u.a. Luke KEMPNER einen Montparnasse wie man ihn sich vorstellt - mehr
ein Geck denn ein Gangster. Generell sang und spielte das Ensemble gerade
auch in den kleinen und Kleinstrollen auf hohem Niveau.
Durchweg
hervorragend waren die Kinder (leider konnte man ihre Namen nicht in Erfahrung
bringen). Die kleine Cosette war nicht nur niedlich, sondern ließ auch
eine so glockenhelle wie sichere Stimme hören. Der Junge, der Gavroche
sang, besaß neben sehr guten vokalen Fähigkeiten bereits ein gutes Gespür
für eine gehörige Portion Frechheit und Göre, ohne zu übertreiben. Sein
Gassenjargon war so perfekt, daß ich trotz recht guter Textkenntnis, teilweise
keine Ahnung hatte, was er eigentlich gerade erzählte.
Die
Inszenierung ist insgesamt düsterer, in vielen Punkten direkter, realistischer
und durchaus auch brutaler. Ein neues Gestaltungselement sind Projektionen
auf den Bühnenhintergrund, die als Schattenspiele den jeweiligen Ort der
Handlung oder entsprechend passende Elemente davon wiedergeben.
Die
Geschichte beginnt auf der Galeere, was vielleicht nicht unbedingt Sinn
macht, aber ein gutes Anfangsbild gibt. Der erste Freier, dem Fantine
ihre Dienste anbietet, ist der Factory Foreman. Bamatabois führt sich
ausgesprochen zügellos auf, und ganz generell wurde viel Wert auf die
weitere Ausarbeitung der zwischenmenschlichen Beziehungen gelegt. Daß
Javert tatsächlich eine Eisenkette zur Verhaftung mitbringt, mag zu diskutieren
sein, zumal wenn Valjean ihn im Laufe ihres Kampfes damit würgt, ganz
abwegig ist es nicht.
Es
wäre wünschenswert, wenn es von dieser Produktion vielleicht dann doch
irgendwann eine DVD geben würde, und sie auf keinen Fall nach der Tour
in der Versenkung verschwindet. AHS
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