Noch
einmal Revolution, aber diesmal die "echte", die französische Revolution
mit der historischen Geschichte der sechzehn Karmeliterinnen von Compiègne,
die am 17. Juli 1794, knapp vor Ende der "Terreur" guillotiniert wurden.
Gertrud von LeFort, die zum Katholizismus übergetretene deutsche Schriftstellerin,
die mit vielen französischen katholischen Intellektuellen in Verbindung
war, u. a. Claudel und Bernanos, schrieb 1931 darüber eine Novelle "Die
Letzte am Schafott". Von Georges Bernanos 1947 als Theaterstück (deutsch
"Die begnadete Angst") und Filmszenario adaptiert, wurde das Libretto
für die Oper vom Dominikaner-Pater R.-L. Bruckberger und Philippe Agostini
verfaßt. Poulenc schrieb die Oper zwischen 1953 und 1956 in ziemlich kurzer
Zeit, die aber von längeren depressiven Perioden unterbrochen waren. Ein
Besuch 1935 im Wallfahrtsort Rocamadour hatte seine Religiosität wieder
entfacht, was seine zahlreichen religiösen Werke in seinem Schaffen erklärt.
Der Uraufführung an der Mailänder Scala am 26. Jänner 1957 (auf Italienisch)
folgte am 21. Juni 1957, die französische Erstaufführung an der Opéra
de Paris unter Pierre Dervaux.
Obwohl
Poulenc kaum formelle Musikausbildung hatte (grad sechszig Kurse mit Charles
Koechlin), wurde er sehr jung in den Kreis der "Six" aufgenommen (Auric,
Durey, Honegger, Milhaud, Tailleffere). Hauptsächlich von Debussy und
Ravel beeinflußt, die er aber immer "überwinden" wollte, der deutschen
Musik und besonders Wagner völlig ablehnend gegenüber stehend, war Poulenc
immer von der Klarheit der Sprache besessen. Aber seine Dramaturgie war
nicht von der "Tragédie lyrique" von Lully über Rameau und Gluck bis Berlioz
inspiriert, sondern eher von der Poesie. Er hatte ja u. a. auch sehr viele
"Mélodies" geschrieben, davon allein mehr als neunzig für seinen Freund,
den Bariton Pierre Bernac.
Diese
sprachliche Finesse und Transparenz ist allerdings schwer mit der dramatischen
Intensität der Tragödie der Karmeliterinnen vereinbar. Auf langen Strecken,
besonders in den Ansprachen der Priorinnen, herrscht eine an Sprechgesang
erinnernde, oratorienhafte Prosodie vor, bisweilen von spektakulären Ausbrüchen
unterbrochen. Die ursprüngliche Verfilmung des tragischen, aber eher linearen
dramatischen Stoffes spiegelt sich auch in der Oper wieder und eine gewisse
filmische Übertragung ist zu erkennen. Obwohl einige sehr intensive orchestrale
Elemente - wie das ostinate Motiv, das bereits zu Beginn zu hören ist
und mehrmals wieder vorkommt- das Werk zeichnen, sind auch veristische
Anklänge zu finden: das vom Chevalier de la Force im Duo mit seiner Schwester
Blanche mehrmals intonierte Motiv könnte man auch bei Puccini, Mascagni
oder Giordano finden. Poulencs Vorliebe für Holzbläser gibt Anlaß zu mehreren
Soli von Klarinette, Oboe, Flöte und Fagott.
Die
Aufführung war eine Wiederaufnahme der Produktion von 1997 in der Halle
au Grain, dem Konzertsaal von Toulouse und Ausweichquartier des Théâtre
du Capitole während der Restaurierungsarbeiten des Bühnenbodens (1997
war es der Schnürboden). Das sechseckige Gebäude von 1864 war die Getreide-Börse
und wurde 1968 auf Betreiben von Michel Plasson (langjähriger Chef des
Orchestre du Capitole) in eine Konzertarena - ähnlich der Berliner Philharmonie
- mit ausgezeichneter Akustik verwandelt, die seither das Heim des Orchestre
du Capitole ist. Da es eben ein Konzertsaal und kein Theater ist, ist
deshalb die Szenerie beschränkt, was bei diesem oratoriumartigen Werk
kaum stört.
Die
von Stéphane ROCHE wieder aufgebaute Inszenierung des Ex-Direktors Nicolas
JOEL ist daher von der Szenographie (und den klassischen Kostüme) des
1999 verstorbenen Hubert MONLOUP abhängig: eine Seite des Sechsecks ist
in eine Bühne verwandelt, und das Orchester sitzt in der Mitte des Saales.
Der Hintergrund der Bühnen-Wand besteht aus fünf stilisierten gotischen
Bögen, durch die die Nonnen auf- und abgehen. Die Chor-Massen der Revolution
werden durch den gegenüber liegenden Haupteingang des Saales eingeschleust.
Für die passende Beleuchtung zeichnete Allain VINCENT.
Die
Aufführung war ausgezeichnet und das ORCHESTRE NATIONAL DU CAPITOLE unter
der Leitung von Patrick DAVIN zeigte sich von der besten Seite. Der junge
Dirigent ist Schüler von Pierre Boulez und Peter Eötvös und deshalb ein
Spezialist des 20. Jahrhunderts. Er machte aus der zwar komplexen, aber
nicht immer tief greifenden Musik eine packende Tragödie. Der CHOR DES
CAPITOLE (Leitung Alfonso CAIANI) machte seine Sache in den wenigen Auftritten
sehr gut.
Eine
hervorragende Besetzung war aufgeboten worden. Die Hauptfiguren dieses
Dramas sind hauptsächlich Frauen. In erster Linie die Zentralfigur, Blanche
de la Force, mit der sich Poulenc in hohem Masse identifiziert hatte (er
hatte die Rolle für Denise Duval geschrieben). Für diese schwierige Rolle
wurde eine Sängerin gewonnen, die sehr viel Barockmusik gesungen hat und
sich auch in zeitgenössischer Musik einen guten Namen gemacht hat. Sophie
MARIN-DEGOR bot eine erschütternde Gestaltung der äußerst anspruchsvollen
Rolle. Sie maß sich dabei vor allem an Sylvie BRUNET, der Priorin des
Carmel, Madame de Croissy, eine große Tragödin, die in den letzten Monaten
durch einige hoch interessante Auftritte ins Rampenlicht getreten ist.
Ihre Agonie und Todesahnungen ließen die Besucher der Vorstellung nicht
unberührt.
Der
neuen Priorin, Madame Lidoine, verlieh Isabelle KABATU sowohl Menschlichkeit
als auch Strenge. Als Mère Marie de l'Incarnation, die Verwalterin des
Klosters, war die dänische Mezzosopranistin Susanne RESMARK nicht nur
stimmlich und darstellerisch ausgezeichnet, sondern sang auch in perfektem
Französisch. Als das Naturkind Soeur Constance de Saint-Denis, das naiv
und fröhlich einige, bisweilen sehr tief gehende Wahrheiten zum Besten
gibt, war Anne-Catherine GILLET sehr gelungen und perfekt am Platze. Von
den weiteren Nonnen fügten sich Qiu Lin ZHANG als Mère Jeanne de l'Enfant-Jésus
und Catherine ALCOVERRO als Soeur Mathilde gut in die Reihen der Karmeliterinnen
ein.
Die
Herren waren durchwegs ebenfalls richtig am Platze, denn die "Hauptrollen"
waren fast überbesetzt. Vor allem war Gilles RAGON mit durchdachter Interpretation
und klugem Spiel stimmlich und darstellerisch ein hervorragender Chevalier
de la Force, der seine Schwester Blanche aber nicht überreden konnte,
den Carmel zu verlassen. Als Vater, Marquis de la Force, war der junge
Nicolas CAVALLIER ein perfekter Aristokrat bis in die Fingerspitzen. Léonard
PEZZINO war als Beichtvater der Karmeliterinnen zu hören, den man auch
schon in größeren Rollen gesehen hat.
Yves
BOUDIER sang den Arzt, Monsieur Javelinot, der die Priorin Madame de Croissy
behandeln soll. Danial DJAMBAZIAN (Offizier), Christophe MORTAGNE und
Paul KONG (Polizeikommissare), Olivier GRAND (Gefängniswärter) und Bruno
VINCENT (Lakai) vervollständigten die ausgezeichnete Aufführung.
Trotz
der tragischen und dramatischen Handlung feierte das volle Haus die Künstler
enthusiastisch. wig.
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