1973
wurde Rolf Liebermann als "Administrateur Général" aus Hamburg an die
Pariser Oper geholt, die ziemlich herunter gekommen war. Man hat damals
hauptsächlich das französische und italienische Repertoire des 19. Jahrhunderts
gespielt - meist in vorsintflutlichen Kulissen - und alles wurde französisch
gesungen - außer Wagner und - sehr selten - Strauss. Liebermann räumte
ziemlich auf und öffnete das Repertoire, vor allem ins 20. Jahrhundert.
Seit
Liebermann ist das übliche, populäre Repertoire allerdings verkommen,
in erster Linie der Verismus, der - ausgenommen die üblichen Puccini-Opern
- nicht mehr gespielt wird. Seit 1975 sind Leoncavallo, Mascagni, Ponchielli,
Giordano usw. nicht mehr auf dem Programm der Pariser Oper - und auch
kaum anderswo in Frankreich. In den allerletzten Jahren sind einige Aufführungen
in der Provinz, vor allem in Südfrankreich, zu sehen gewesen. Es ist daher
umso mehr zu begrüßen, daß Direktor Nicolas Joel für seine letzte Saison
am Capitole in Toulouse Giordanos Meisterwerk aufs Programm gesetzt hat,
eine Oper, die eigentümlicherweise heutzutage vor allem in Deutschland
zu hören ist.
Es
war ein Zufall, daß ich "Andrea Chenier" (1896) fünf Tage nach "Tosca"
(1900) in Bordeaux sehen konnte, was einen interessanten Vergleich ergab.
Beide Opern haben Luigi Illica als Autor des Librettos und spielen in
der Zeit um die französische Revolution in knappen sechs Jahren Abstand.
Illica schrieb, wie sein Vorgänger Eugène Scribe historische Dramen, aber
mit näherem Inhalt. Doch aus dem "Nemico de la patria" ("Chenier") ist
"Prigioniero di stato" (Angelotti in "Tosca") geworden. Wie rasch die
Revolution sich ändert....
Obwohl
nur vier Jahre zwischen den Premieren der beiden Werke liegen, ist der
musikalische Unterschied nicht uninteressant. Beide Opern beginnen mit
ähnlichen wuchtigen Akkorden. Doch die lyrischen Ausbrüche Cheniers und
der anderen Sänger sind ungemein "modern" für seine Zeit; Giordano verwendet
ziemlich gewagte Akkord-Auflösungen. Das "Improvviso" Cheniers im 1. Akt
geht in einem Atem durch ein halbes Dutzend Tonarten. Puccini ist da doch
noch "klassischer".
Die
Produktion wurde aus Nancy importiert und stammte von Jean-Louis MARTINOTY,
einer der besten Opernregisseure überhaupt, dessen Ruf für interessante,
durchdachte und sehr schöne Inszenierungen weit über die Grenzen Frankreichs
geht. Er hatte für die Bühnenbilder den Maler Bernard ARNOULD engagiert,
der die Atmosphäre des Ancien Régime und der Revolution sehr passend veristisch
wiedergab. Die Gäste im Salon der Comtesse de Coigny waren nicht Statisten,
sondern lebensgroße Pappmaché-Puppen, die die Diener unter den Arm nahmen
und plazierten, was die vertrocknete Dekadenz der französischen Aristokratie
zeigte. Im 3. Akt dräute eine riesige Guillotine m Hintergrund. Daniel
OGIER hatte die durchwegs passenden Kostüme entworfen, die sehr hübsch
und ansehbar waren. Die Beleuchtung von Jean-Philippe ROY war differenziert
und vervollständigte den sehr positiven optischen Eindruck. Die hübsche
choreographische Einlage im 1. Akt war von François RAFFINOT.
Pinchas
STEINBERG stand am Pult, der in Toulouse eher für seine hervorragenden
Aufführungen von Wagner und Strauss bekannt ist. Ich habe ihn aber bereits
mehrmals im italienischen Repertoire in Paris erlebt. Er wußte die veristische,
etwas sentimentale Musik mit Schwung heraus zu arbeiten, was das ORCHESTRE
NATIONAL DU CAPITOLE mit richtiger Italianità zu Gehör brachte, ohne in
Schmalz und Kitsch zu verfallen. Der CHOR DES CAPITOLE, der auch ungemein
aktiv spielte, war, wie gewohnt, von Patrick Marie AUBERT hervorragend
einstudiert worden.
Die
Sänger waren allerdings außergewöhnlich. In der Titelrolle war ebenfalls
ein Wagner-Strauss-Spezialist zu hören, Robert DEAN SMITH. Sein Andrea
Chenier war der patriotische Poet, der romantische Träumer, wie ihn Giordano
vielleicht geträumt hat. Seine lyrischen Ausbrüche hatten Kraft und italienischen
Stil, er spielte sehr glaubwürdig und seine italienische Diktion ist ausgezeichnet.
Seine Madeleine de Coigny war Irene CERBONCINI, eine sehr attraktive Frau
mit starker Bühnenpräsenz, die ihren prachtvollen Sopran zur Geltung brachte.
Nach "La mamma morta" erhielt sie Szenenapplaus.
Sergey
MURZAEV als Charles Gérard war stimmlich weniger zufrieden stellend. Seine
sehr tragende Bombenstimme ist nicht sehr kultiviert und gewöhnungsbedürftig,
bisweilen sogar vulgär. Er spielte dafür ausgezeichnet den aufmüpfigen
Proletarier, der auch Madeleine liebt und am Ende aber seine Handlungsweise
Chenier gegenüber bereut. Stefania TOCZYSKA war großartig, denn sie gab
der Comtesse de Coigny selbst in dieser kleinen Rolle Präsenz. Maria José
MONTEIL als Madelon konnte einen großen persönlichen Erfolg verbuchen.
Für "Son la vecchia Madelon", wo sie ihren Enkel dem Vaterland opfert,
wurde sie sehr applaudiert. Varduhi ABRAHAMYAN war als Bersi in einem
besonders hübschen kleidsamen Kostüm bestens am Platze.
Die
Sänger der Nebenrollen waren nicht nur rollendeckend, sondern hatten diese
bisweilen sehr treffend gezeichnet: Peter EDELMANN (Fléville), Emiliano
GONZALEZ TORO (Abbé/ein Incroyable), Daniel DJAMBAZIAN (Mathieu), André
HEYBOER (Roucher), Antoine GARCIN (Fouquier-Tinville) sowie Reik FREULON
(Dumas, Schmidt und Haushofmeister).
Das
sängersüchtige Publikum in Toulouse war begeistert und gab seine Freude
an dem schönen Abend durch zahlreichen Szenenapplaus und viele Vorhänge
am Schluß kund. wig.
|