George
Enescu (1881-1955) wurde als Bauernsohn in Moldavien geboren und wurde
nicht nur ein Wunderkind, sondern auch Komponist und einer der gefeiertesten
Violin- und Klaviervirtuosen der Zwischenkriegszeit. Mit vier Jahren erhielt
Enescu seine erste Geige. Ein Jahr später wurde er in Bukarest Schüler
von Caudella, der selbst Schüler des berühmten belgischen Geigers Vieuxtemps
war. Nach zwei Jahren überredete Caudella seine Eltern, den siebenjährigen
Buben nach Wien zu schicken. Er wurde Schüler von Joseph Hellmesberger,
bei dem er mit seiner Mutter auch wohnte. 1892 gab er mit neun Jahren
sein erstes öffentliches Konzert im Bösendorfer-Saal in Wien. Im Konservatorium
lernte er Brahms kennen, der den Proben des Konservatoriums-Orchesters
oft beiwohnte, und der den Jungen sehr unterstützte. Auf Hellmesbergers
Anraten ging Enescu nach Paris, wo er Komposition mit Massenet und Fauré,
sowie Violine mit Marsick studierte. Am Pariser Conservatoire lernte er
viele seiner späteren Freunde kennen: Florent Schmitt, Maurice Ravel,
Charles Koechlin, Alfred Cortot, Jacques Thibaud (der auch Marsicks Schüler
war) und viele andere.
Enescu
gehört zu den zu Unrecht Vergessenen. Seine einzige Oper "Oedipe", sein
"Lebenswerk", an dem er über zehn Jahre gearbeitet hatte, wurde 1936 an
der Pariser Oper uraufgeführt - und ist seither nie mehr wieder auf einer
französischen Bühne gespielt worden! In Wien war dieses ungewöhnliche
Werk vor einigen Jahren auf dem Spielplan (wo ich es gesehen habe). Es
ist umso erfreulicher und couragiert von dem - noch - Direktor des Capitole,
NICOLAS JOEL, dieses vergessene Werk zur Eröffnung seiner letzten Saison
aufs Programm gesetzt zu haben.
Enescus
"Oedipe" ist sicher eine der ungewöhnlichsten und schwierigsten Opern
überhaupt. Enescu ist in keine Schule, Strömung oder Tendenz einstufbar.
Man denkt an einen anderen, nicht einreihbaren, jüngeren Zeitgenossen,
Benjamin Britten. Obwohl die Ouvertüre und einige Zwischenspiele an seine
Vorbilder und Lehrer Brahms und Fauré erinnern, hört man plötzlich ein
Trompeten-Thema, für das selbst Wagner sich nicht geschämt hätte. Es gibt
keinerlei arienähnliche Nummern, nur einen freien, bisweilen monodischen
Diskurs, pentatonische Monologe, die öfters in Sprechgesang münden. Man
kann ganz schwache Anlehnungen an Debussy oder Ravel entdecken, aber keine
wirklich markanten Einflüsse sind offenbar, keine Wagnerischen Leitmotive,
die den Hörer leiten könnten. Das große Orchester ist durch die ungewöhnlich
große Holzbläser-Gruppe von 14 (!) Instrumentalisten (u. a. je vier Klarinetten
und Flöten) gekennzeichnet, die sehr reichlich verwendet wird. Die mächtigen
Chöre sind äußerst eindrucksvoll.
Edouard
Fleg war hauptsächlich als jüdischer Denker und Philosoph bekannt, der
1948 eine "Gesellschaft für die jüdisch-christliche Freundschaft" in Paris
gegründet hatte. Fleg schrieb ein ungemein intensives und poetisches Libretto
nach den Dramen des Sophokles. Der gereimte Text dieser gräßlichen Handlung
gibt der Oper zusätzliche dramatische Kraft. Um die Titelfigur handelt
eine Schar sekundärer Personen, die ebenso wie der Held von der Mühle
des Fatums und der unverständlichen Grausamkeit der Götter zermahlen werden.
Denn die ganze Handlung beruht auf der unerklärten Marotte Apollos, der
Laios im Traum befohlen hatte, kinderlos zu sterben. Da Laios jedoch diesen
Befehl nicht befolgt hatte, rächte sich Apollo bitter. Drei zentrale,
äußerst packende Szenen dominieren die Handlung: die Begegnung und Frage
der Sphinx im 2. Akt (die bei Sophokles nur angedeutet ist, aber nicht
vorkommt), was stärker als das Schicksal sei, mit Oedipes (richtiger)
Antwort: "Der Mensch". Worauf die Sphinx unter hysterischem Geschrei versinkt.
Weiters die ungemein dramatische Szene im 3. Akt, in der Teiresias die
wahre Person des Oedipe enthüllt und dessen Zusammenbruch besiegelt. Und
schließlich die Schlußszene des 4. Akts, in der der geblendete Oedipe
mit seiner Tochter Antigone durch Attika zieht und im heiligen Wald stirbt.
Eine ganz große, ungemein packende Oper!
Aus
Gesundheitsgründen konnte Nicolas JOEL das bereits fertige Konzept der
Inszenierung nicht selbst durchführen, und überantwortete sie seinem Assistenten
Stéphane ROCHE. Wie sehr oft, zeichneten für das einfache antike Bühnenbild
Ezio FRIGERIO und für die - etwas grauen - Kostüme Franca SQUARCIAPINO.
Vor einem halbrunden Säulengang sind Stiegen wie in einem Amphitheater
angeordnet, meist vom Chor bevölkert. Im 2. Akt erscheint ein dorischer
Tempel im Hintergrund. Auch die Behausung der Sphinx am Ende des 2. Akts
ist unter dem Halbrund angesiedelt und erscheint auf einer riesigen Säule
aus der Versenkung, eingehüllt von schwarzen Flügel- Vorhängen. Die Personenführung
ist im Allgemeinen antik und würdig.
Wie
meistens in Toulouse war die Aufführung musikalisch ausgezeichnet. Pinchas
STEINBERG, hier sehr oft vor allem bei Wagner und Strauss zu hören, gab
der äußerst schwierigen und ungewöhnlichen Partitur sowohl Tiefe als auch
Durchsichtigkeit und das mit offenbarer Liebe zum Werk. Steinberg führte
das ORCHESTRE NATIONAL DU CAPITOLE mit sicherer Hand. Gleich zwei CHÖRE
DER OPERNHÄUSER VON TOULOUSE UND BORDEAUX wurden aufgeboten um der äußerst
dichten choralen Komposition Rechnung zu tragen. Die beiden Chöre waren
von den ihren Chorchefs Patrick AUBERT und Jacques BLANC hervorragend
vorbereitet worden, die den großen Chorszenen Wucht und Intensität verliehen.
Die
Oper enthält nur eine wirklich große Rolle, Oedipe. Frank FERRARI ist
einer der jungen französischen Baritone, die nicht nur stimmlich, sondern
auch durch intensives Spiel und persönliche Charaktergestaltung großen
Eindruck hinterlassen. Ferrari hat die äußerst anstrengende Rolle mit
großer Musikalität und Bühnenpräsenz verkörpert. Sein großer Schlußmonolog
war zutiefst erschütternd.
Alle
anderen Rollen sind eigentlich nur Comprimari in dieser schrecklichen
Geschichte von der Ungerechtigkeit der Götter, alle ausnahmslos ausgezeichnet
und vielfach überbesetzt. Allen voran die sehr intensive Jocaste von Sylvie
BRUNET, die die unausbleibliche Tragik der Rolle mit ihrem prächtigen
Mezzo ideal verkörperte. Tiresias ist der Unheilsbote schlechthin, denn
jedes Mal, wenn er auftritt, geht etwas schief, und die Götter sind wieder
einmal böse. Arutjun KOTCHINIAN vermittelte diese Macht sehr eindrucksvoll,
nicht halluziniert, sondern dank seiner Größe und seines unglaublichen
Basses mit überragender Autorität, die keinerlei Widerspruch duldete,
eine Bühnenpräsenz ersten Ranges. Wäre ein idealer Pimen!
Weniger
groß war der ausgezeichnete Hohepriester von Enzo CAPUANO. Marie Nicole
LEMIEUX gab der Sphinx, die Theben bedroht, mit ihrem hysterischen Gelächter
ein Kammerstück von stimmlicher Darstellungskraft. Fabelhaft! Am Schluß
der Oper wird der geblendete Oedipe von seiner Tochter Antigone in den
heiligen Wald in Attika begleitet, von Amel BRAHIM-DJELLOUL mit schöner
Stimme und erheblichem Einsatz dargestellt.
Mehrere
kleinere Nebenrollen wurden von Maria José MONTIEL (Mérope), Qiu Lin ZHANG
(Thebanerin), Emiliano GONZALEZ TORO (Hirt), Harry PEETERS (Phorbas),
Leonard PEZZINO (Laïos), Andrew SCHROEDER (Thésée) sowie Jérôme VARNIER
(Wächter) passend und rollendeckend dargestellt.
Das
Sonntag-Nachmittag-Publikum dankte den Künstlern, besonders Steinberg
und Ferrari, mit großem Applaus für die prachtvolle Aufführung. wig.
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