In
der Opernliteratur gibt es einige weibliche Rollen, die erst nach jahrzehntelanger
Karriere zugänglich werden. Die meisten dieser Monsyrt-Rollen findet man
im slawischen Repertoire, vor allem bei Janá?ek. Die wohl prominenteste
dieser Figuren ist jedoch die alte Gräfin in "Pique Dame", Tschaikowskis
Meisterwerk. Die Rolle ist stimmlich zwar nicht sonderlich anstrengend,
bedarf aber einer hervorragenden Sängerpersönlichkeit. Nach über vierzig
Jahren auf der Bühne hat nun Raina KABAIVANSKA vor drei Jahren diese Rolle
in Neapel in die lange Liste ihres Repertoires aufgenommen. Die bulgarische
Sängerin bewies erneut, daß sie zu den großen Figuren der Opernszene der
letzten Jahrzehnte gehört. Ihre perfekte Technik beweist sie alljährlich
in vielen Masterclasses und hier in dem französischen Lied von Grétry.
Diese Erfahrung erlaubt ihr auch, die komplexe Rolle mit großer Finesse
darzustellen. Ihre Bühnenpräsenz war ungemein eindrucksvoll, sei es in
einer riesigen schwarzen Robe mit einer riesigen gepuderten, über 30 cm
hohen Perücke und unglaublichem Dekolleté, als "alter Drachen", die ihre
Enkelin Lisa ständig überwacht, oder kahlköpfig in ihrem Schlafzimmer
vor der Erpressungsszene im 2. Akt, wo sie ihr Personal herumjagt, und
vor allem zuletzt als Erscheinung, welche Hermann die drei Karten nennt.
Sie
war von ebenso ausgezeichneten Sängern umgeben. Vladimir GALOUZINE sang
Hermann, seine Paraderolle, noch intensiver, aber auch gequälter, als
vor einigen Jahren in der Bastille. Seine Stimme hat an Kraft gewonnen,
ein richtiger Heldentenor, und darüber hinaus ein phänomenaler Darsteller,
der die Gestörtheit und den von Beginn an lauernden Wahnsinn (über die
Sicht des Regisseurs kann man aber geteilter Meinung sein) grandios vermittelte.
Umwerfend! In der Pause konnte ich ein Gespräch überhören "Wann wird er
Tristan singen?"
Als
Lisa war Barbara HAVEMAN zu erleben, die eine jugendlich-dramatische,
kraftvolle Stimme mit strahlender, etwas scharfer Höhe besitzt. Die überaus
gefühlvolle Holländerin wirkte zunächst sehr jungmädchenhaft und entwickelte
sich dann zu einer ausdrucksvollen, rasch gereiften jungen Frau. Das Duett
zwischen Lisa und Hermann in der vorletzten Szene (an der Newa, siehe
unten) war der Höhepunkt emotioneller Kraft und Intensität.
Auch
die Nebenrollen waren ausgezeichnet besetzt. Als Fürst Jeletzki war Vladimir
CHERNOV der personifizierte russische Adel und sang seine Liebeserklärung
an Lisa mit prachtvollem Baß. In der Spielszene zeigte er, daß er weiß,
was er will. Boris STATSENKO als Graf Tomski war ein hoheitsvoller Offizier,
der sich seines Freundes Hermann väterlich annahm, aber auch das zynische
Trinklied im letzten Bild mit schönem Kavaliersbariton vortrug.
Sehr
hübsch sang die junge Varduhi ABRAHAMYAN das traurige Lied der Pauline,
und als Gouvernante kommandierte Carolin MASUR die jungen Damen des Hauses,
sich nicht so vulgär russisch zu benehmen. Elena POESINA war eine charmante
Mascha/Chloé. Weiters waren Vladimir SOLODOVNIKOV (Tschekalinski) und
Balint SZABO (Surin) sehr spöttisch Hermann gegenüber, während Kyung IL
KO (Narumov) und Martin MÜHLE (Tschaplitski) Hermann zum Spielen provozierten.
Antoine NORMAND was als steifer Zeremonienmeister zu hören.
Der
riesige Erfolg der total ausverkauften Aufführungsserie hatte noch einen
anderen "Zeremonienmeister" - am Dirigentenpult: der junge Tugan SOKHIEV
stammt, wie sein Kollege Valery Gergiev, aus Ossetien und ist seit zwei
Jahren "erster Gastdirigent" des ORCHESTRE NATIONAL DU CAPITOLE. Er hat
sich als "Chef" in Toulouse sehr beliebt gemacht. Seine außergewöhnlich
dramatisch intensive, aber auch sehr differenzierte Leitung war maßgeblich
für die Einheit und den Erfolg der Aufführung. Er weiß sowohl die großen
Ausbrüche zu steuern, ebenso wie er die Oboen und Streicher in den nostalgischen
Momenten singen zu lassen. Ein großes Talent! Sehr ausgewogen waren der
CHOR und KINDERCHOR des Capitole, fabelhaft einstudiert von Patrick Marie
AUBERT.
Die
nüchternen Wände von Alessandro CAMERA verwendete Arnaud BERTRAND als
Rahmen für seine etwas fragwürdige Inszenierung. Absolut unverständlich
war das Pastoral-Intermezzo des 2. Aktes, das in einer ärmlichen Wohnung
des heutigen Rußlands mit primitivem Schwarz-Weiß-Fernseher und schäbigen
Möbeln spielte. Das ganze Werkel wurde aus der Versenkung gehoben und
verschwand auch dorthin. Plutus wurde zwar von Tomski gesungen, aber von
Jeletzki gespielt, während Hermann den Daphnis mimte. Die nicht sichtbaren
Solisten sangen die Szene von der linken Proszeniumsloge aus, und der
Chor kam aus dem Orchestergraben. Eine weitere skurrile Peinlichkeit bildete
die lächerliche Erscheinung von Zarin Katharina auf dem Ball in der Person
eines dicken Mannes in einer durchsichtigen weißen Reifrobe mit einer
idiotischen Krone!
Das
dramatische Treffen zwischen Lisa und Hermann spielte nicht am Ufer der
Newa, sondern in einem Duschraum der Kaserne, wo Hermann zuerst in einer
der Kabinen kauerte. Lisa ertränkte sich offenbar unter einer der Duschen.
Eine ähnliche neue Marotte war schon in der Marthaler-Inszenierung von
"Katia Kabanova" in der Bastille zu sehen: Katia beging da Selbstmord
im Planschbecken eines verkommenen Sozialwohnbaus. Es war auch nicht klar,
weshalb das 1. Bild in einem Fliesen-Salon mit einem großen Marmor-Kamin
spielte und nicht auf einer Promenade oder in einem Park. Die Fliesen
waren sonst auch überall, während der Kamin später hochgezogen wurde.
Das Gemach der Gräfin geriet noch am passendsten, obwohl auch hier auf
der rechten Hälfte die Badezimmer-Atmosphäre vorherrschte.
Eine
gute Idee war die Gräfin im 1. Bild des 3. Aktes von einer Krankenbahre
aufstehen und Hermann erscheinen zu lassen. Der Spieltisch der letzten
Szene erwies sich ebenfalls als Bahre. Das darüber gespannte grüne Tuch
des Spieltisches wurde zum Leichentuch Hermanns. Sein Selbstmord war wenig
dramatisch: er warf sich auf den Spieltisch und schoß sich lautlos eine
Kugel ins Herz. Der im Programmheft abgebildete Max Lorenz als Hermann
starb etwas dramatischer: vor sechzig Jahren sprang er auf den Spieltisch,
schoß sich eine Kugel in den Kopf und fiel wie ein Holzscheit herunter.
Die Beleuchtung von Patrick MÉEÜS war angemessen, und wechselte zwischen
trübsinniger Finsternis und strahlender Ballbeleuchtung.
Die
Kostüme von Carla RICONTTI waren passend und kleidsam, sowohl die der
Solisten als auch die der Chordamen, denn die Herren waren meist im Frack.
Da das mozartische, von der Regie gänzlich verpatzte Pastorale ausfiel,
beschränkte sich die Choreographie von Gianni ANTUCCI auf die Ballszene,
mit marionettenhaften Bewegungen als mißlungen zu bezeichnen, und die
passende Führung der Kinder und Gouvernanten im 1. Bild.
Trotz
der Einschränkungen zum Konzept der Inszenierung, war es eine denkwürdige,
vom Toulouser Publikum enthusiastisch gefeierte Aufführung. wig.
|