Zu
Ende des 19. Jahrhunderts kamen soziale Fragen immer mehr in Literatur
und Kunst zur Sprache, in Romanen (Dickens, Stendahl, Zola) und im Theater
(Hauptmann, Ibsen, u.v.a.). In Italien entstand mit dem Verismus eine
eigenes Genre der Oper, das nur wenig exportiert wurde ("Tiefland" und
"Evangelimann" in Deutschland, "Louise" in Frankreich). Janácek hat eigentümlicher
Weise mit "Jenúfa" einen tschechischen Verismus initiiert, während selbst
Dvorak sich auf nationale Sagen und Märchen beschränkte. Ohne seine musikalische
Erbschaft zu verleugnen, verwendete Janácek literarische Vorwürfe, die
aus dem Alltag kamen und in den lokalen Zeitungen standen. Diese eigene
Synthese aus volkstümlichen Quellen und Expressionismus hat Janácek in
einzigartiger, genialer Weise geschaffen. Daß die Handlung heute vielen
Hörern nicht sehr viel sagt, ändert nicht die Tatsache, daß vor 120 Jahren
das ewige Problem der "ledigen Kinder" nicht angeschnitten worden war.
Obwohl
heute eine richtige Janácek-Woge zu verzeichnen ist, hatten alle tschechischen
Komponisten es schwer in Frankreich heimisch zu werden. "Jenúfa" wurde
erst 1974 (!) in Lyon in einer französischen Produktion zur Erstaufführung
gebracht, "Katía Kabánova" konnte man schon 1968 in Paris sehen.
Die
Oper in Nantes hat bewiesen, daß auch ein "kleines Haus" eine erstklassige
Aufführung eines so anspruchsvollen Werks zustande bringen kann. Die in
der Schweiz und in Frankreich sehr bekannten Regisseure Patrice CAURIER
und Moshe LEISER, hatten schon mehrere Produktionen in Nantes gemacht.
Sie haben einige erstklassige Sänger für das Projekt gewonnen. Christian
FERNOUILLAT schuf ein einfaches, der tragischen Handlung entsprechendes
Bühnenbild, das aus dunklen Wänden, einer praktikablen Fensterwand und
ein paar Versatzstücken bestand. Für die mährische Umgebung passend, hatte
Agostino CAVALCA hübsche folkloristische Kostüme entworfen. Christophe
FOREY beleuchtet die ganze Szenerie sehr treffend. In diesem kongenialen
Rahmen konnten die Regisseure die ausgezeichneten Sänger durch die einigermaßen
wirren Verwandtschaftsverhältnisse der Familie Burya führen.
Olga
GURYAKOVA in der Titelrolle hat bereits vor mehreren Jahren als "Rusalka"
und als Natascha Rostova in Prokofieffs "Krieg und Frieden" in der Bastille
brilliert. Sie scheint nicht gealtert zu sein, denn jugendlich und gertenschlank
gab sie der ausdrucksvollen Rolle nicht nur die stimmliche Kraft und Dramatik,
sondern auch eine sehr intensive Darstellung. Wenn die Küsterin ihr den
Tod des Kindes verkündigt, läuft es einem kalt über den Rücken.
Als
Küsterin, die mit ihren Vorurteilen nur Unglück anstiftet, weil sie unbedingt
den Ruf ihrer Ziehtochter retten will, war Kathryn HARRIES ungemein eindrucksvoll.
Ihre dunkle hochdramatische Stimme trägt in allen Lagen und ihre Darstellung
der von der Nachrede der Nachbarn gepeinigten Frau ist erschütternd. Wenn
sie z. B. Steva auf den Knieen bittet, Jenúfa doch zu heiraten.
Brandon
JOVANOVICH als Steva sang prächtig und spielte den umschwärmten Land-Schönling
sehr treffend. Der treue Laca ist eine psychologisch und gesanglich schwierigen
Rolle; Richard BERKELEY-STEELE mit sehr heldischer Stimme gab ihm menschliches
Profil, ohne lächerlich zu wirken. Sheila NADLER war als Großmutter Buryanova
passend.
Dem
Müllersknecht und dem Bürgermeister gab Frédéric CATON das richtige Profil,
Linda ORMISTON war sehr treffend als seine schnatternde, angeberische
Gattin und Virginie POCHON ebenso als die geschwätzige Tochter Karolka.
Edita FERENCIKOVA als Magd und Cécile GALLOIS als Barena waren rollendeckend.
Laurence MISONNE spielte den jungen Jano mit passender Naivität.
Das
ORCHESTRE NATIONAL DES PAYS DE LA LOIRE war in bester Verfassung unter
der umsichtigen Leitung von Mark SHANAHAN und folgte ihm enthusiastisch
durch die Tücken der ungewohnten Partitur. Der Dirigent leitete die Sänger
sehr aufmerksam und war hörbar bemüht das große Orchester nicht zu laut
werden zu lassen für das eher kleine Théâtre Graslin. Deshalb wurde die
Oper auch nicht in dem viel kleineren Theater der Partnerstadt Angers
gespielt; die dortigen Abonnenten wurden per Bus nach Nantes gefahren.
Gleich
zwei Chöre waren für diese Produktion aufgeboten worden: der lokale CHOR
D'ANGERS-NATES-OPÉRA (Leitung Xavier RIBES) und der CHOR DE L'OPÈRA DE
MONTPELLIER (Leitung Noelle GÉNY). Beide Chöre sangen mit sicht- und hörbarer
Begeisterung und wurden von den beiden Regisseuren sehr aktiv spielend
eingesetzt.
Das
Publikum war begeistert und feierte alle Künstler stürmisch. Eine ausgezeichnet,
sehr schöne und gelungene Aufführung! wig.
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