François
MAURIAC (1885-1970) ist eine literarische und moralische Referenz in Frankreich,
in seiner Heimat in Südwest-Frankreich wird er verehrt wie ein Heiliger.
Der sehr erfolgreiche Schriftsteller und Dichter erhielt 1952 den Literatur-Nobelpreis
und war auch ein bedeutender Journalist. Seine wöchentlichen überaus kritischen
"Blocnotes" in der Wochenzeitschrift "Express" haben Generationen politisch
beeinflußt. Er war gläubiger Katholik und trat sehr aktiv für die Unabhängigkeit
der ehemaligen französischen Kolonien ein. Mauriac wurde in Bordeaux geboren
und lebte und arbeitete Jahrzehnte lang in seinem über der Garonne liegenden
Landsitz Malagar (bei Langon, 40 km südlich von Bordeaux). Es lag daher
nahe, diese in Langon spielende Oper, nach seiner Novelle "Genitrix" (1923),
in Bordeaux zur Uraufführung zu bringen.
Daß
ein ungarischer Komponist (László Tihanyi, 1956 in Budapest geboren) sich
für diesen Text interessiert hat, ist ein bißchen wie wenn ein Spanier
ein Kapitel aus Manns "Buddenbrocks" vertonte. Mauriacs psychologisch
präzise gezeichneten Figuren dieser scharfen Kritik am ländlichen Kleinbürgertum
sind allerdings ungemein bühnenwirksam. Tihanyis Musik ist von Bártok,
aber auch von der neueren ungarischen Schule, Ligeti, Kurtag und Eötvös,
beeinflußt, allerdings weniger "hart". Sehr realistische Geräusche, wie
die vorbeifahrender Züge, werden verwendet. Bei den Klangballungen und
der solistischen Verwendung von Holzbläser und Schlagzeug, die die traumhafte
Atmosphäre unterstreichen, denkt man an Lutoslawski. Ein Chor hinter der
Szene kommentiert die Fieberträume und singt lateinische Hymnen. Die Oper
schließt mit einem Gebet Fernands, der von der Stimme Mathildes und lateinischen
Chören oratorienhaft ergänzt wird, die an den Schluß von Honeggers "Jeanne
d'Arc" erinnern.
Die
Handlung von "Genitrix" spielt im Hause der possesiven Mutter Félicité
Cazenave, neben dem Bahnhof. Denn die durchfahrenden, haltenden und verschiebenden
Züge bestimmen den grauen Alltag der kleinbürgerlichen Familie. Die verwitwete
Mutter hat ihren fünfzigjährigen Sohn Fernand immer vergöttert, der seiner
Mutter dafür Spinoza und Epiktet vorliest. Von Zeit zu Zeit fährt er für
drei Tage nach Bordeaux und geht ins Bordell. Schließlich erliegt er den
Verlockungen der jungen Lehrerin Mathilde. Diese Problematik ist charakteristisch
für Mauriac, der mehrfach das moralische - und sexuelle - Elend des Klein-Bürgertums
seiner Region beschrieb, eine direkte Nachfolge der französischen Sitten-Novellen
und Romane des 19. Jahrhunderts, von Montpassant und Flaubert. Doch hier
spielt bereits die Psychoanalyse eine erhebliche Rolle.
Die
Oper beginnt mit den Fieberträumen Mathildes, die im Kindbett stirbt,
nach einer Fehlgeburt. Fernand verfällt in eine krankhafte Vergötterung
seiner toten Frau. Seinen Krisenzustand veranschaulichen mehrere Rückblicke,
in denen die tote Mathilde erscheint. Fernand erkennt schließlich, daß
sein Leben verpfuscht ist und wirft der Mutter ihre Verantwortung an der
Lage vor. Für die alte Frau ist das jedoch zu viel, sie stirbt daran.
Fernand ist nun mit sich alleine. Er versinkt in einen Fiebertraum, mit
oratorienhaften Deklamationen seiner philosophischen Maximen und stirbt
mit einem Gebet "Herr, erbarme Dich mein!" Ein sehr eindrucksvoller, packender
Schluß!
Die
Uraufführung in Bordeaux war von höchster Qualität. Die gesamte Gestaltung
war in Zusammenarbeit mit dem Komponisten der Regisseurin Christine DORMOY
anvertraut worden, die seit zwanzig Jahren die Theatertruppe Compagnie
Le Grain leitet und die auch die Sänger auswählte. Eine nüchterne Einheitsszenographie
(MARIOGE) des riesigen Hauses erdrückt buchstäblich die Familie Cazenave.
Bisweilen gehen die Jalousien auf und ab, die den Hintergrund für Projektionen
des schmiedeeisernen Gitters des Gartens oder alter Briefe freigeben.
Oder es wird eine Bank, ein Bett herein geschoben. Und dann hört man die
Züge. Die irreale, traumhafte Atmosphäre des Stücks wird durch die passende
Beleuchtung (Paul BEAUREILLES) und die bewußt banalen Kostüme (Cidalia
da COSTA) noch drückender gezeigt. Das Stück bedarf keiner weiteren Interpretation,
Mauriacs Text und Tihanyis Musik sprechen für sich selbst.
Die
fünfzig Musiker des ORCHESTRE NATIONAL BORDEAUX AQUITAINE unter der Leitung
des Komponisten Lászlo TIHANYI hatten offenbar viel geprobt und waren
mit großer Begeisterung am Werk. Es ist ja keine Kleinigkeit, ein solches
Werk über die Runden zu bringen. Jacques BLANC sorgte für die perfekte
Einstudierung des CHORS DER OPER BORDEAUX, der vom KINDERCHOR ELIANE LAVAIL
unter der Leitung von Marie CHAVANEL höchst passend ergänzt wurde.
Hanna
SCHAER als Félicité, die kastrierende Mutter, dominierte die Sänger. Diese
hervorragende und hoch intelligente Sängerin ist als Interpretin von vielen
dramatisch schwierigen Nebenrollen seit Jahren sehr gesucht. Hier konnte
sie erstmalig ihr stimmliches und schauspielerisches Talent in einer großen
Rolle beweisen. Sie hat die psychologische Komplexität der Rolle völlig
erfaßt und teilte diese großartig dem Publikum mit.
Der
Bariton Jean-Marcel CANDENOT gab dem Sohn Fernand die Verzweiflung und
Intensität des von seiner Mutter tyrannisierten alternden Mannes tiefe
Substanz. Die junge Sevan MANOUKIAN stand als Mathilde zwischen den beiden
Psychopathen. Mit frischer Stimme und ausdrucksvollem Spiel wußte sie
sich zu behaupten. Eine nicht nebensächliche Rolle spielte der Hausarzt
Duluc, der sozusagen als Gewissen wie ein griechischer Chor das Geschehen
kommentierte. Christophe BERRY wußte diese nicht sehr dankbare Rolle mit
seinem gut geführten hohen Tenor glaubhaft zu gestalten.
Denise
LABORDE gab als Haushälterin Maria mit gesundem Hausverstand im Dialekt
der Gascogne ihre Meinung kund, die Félicité aber schon gar nicht schätzt.
In den "Flashbacks" gab es kleinere Rollen, die Mutter und Sohn als Kinder
zeigten, von Pauline MARTOS und Tomy JARDI passend gespielt, sowie Vincent
MARTOS als Marias kleiner Sohn, der brav seinen Katechismus aufsagte.
Diese
Oper stellt eine ungewöhnliche Mischung von musikalischer Moderne und
volkstümlichem Realismus dar und fand beim Publikum sehr großen Anklang,
denn der Applaus war lang und herzlich. Durchaus auch auf anderen Bühnen
aufführbar, ohne Ablehnung fürchten zu müssen. wig.
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