Da
seit 1990 keine szenische Aufführung der ""Meistersinger" in Paris stattgefunden
hat - nur zwei konzertante Aufführungen in der Bastille-Oper vor drei
Jahren - wollte ich die Gelegenheit einer Aufführung in Toulouse - noch
dazu in brillanter Besetzung - nicht versäumen.
Direktor-Regisseur
Nicolas JOEL ist mutig - man kann es auch verrückt nennen - große Wagner-Opern
in einem kleinen Haus (weniger als 900 Sitze) zu spielen. Aber wenn es
für einen "Ring" ausgeht, kann man sicher auch "Meistersinger" bringen!
So hat sich das Capitole in Toulouse zur ersten Wagnerbühne Frankreichs
entwickelt! In den "Meistersingern" sind die Probleme allerdings noch
größer als im "Ring": große Massenszenen, wie die Prügelszene oder die
Festwiese, auf einer relativ kleinen Bühne sind schwer zu realisieren,
und weiter muß man ein riesiges Wagner-Orchester in dem kleinen Graben
unterbringen. Nicolas Joel hat beide Probleme erfolgreich gelöst. Das
Orchester war auf ca. 70 Personen beschränkt, und auf der Festwiese gab
es etwas Gedränge, doch die Aufführung war katastrophenfrei.
Das
realistische Konzept der Bühnenbildner Jean-Marie STEHLÉ und Antoine FONTAINE
war ziemlich ungewöhnlich. Die beiden Kumpane sind ja nicht an ihrem ersten
Versuch in dieser Richtung. Bereits vor vier Jahren gab es in Paris eine
ähnlich inspirierte Ausstattung für "Die Fledermaus" und vor zwei Jahren
einen in Afghanistan spielenden "Barbiere di Siviglia" von den beiden.
Sie
haben sicher zwischen Lübeck und Palermo, Lissabon und Krakau Ausschneide-Bogen
der lokalen Sehenswürdigkeiten gesehen, die man zusammenkleben und dann
auf einem Schrank verstauben lassen kann. Das war Nürnberg in Toulouse.
Man fragt sich, weshalb diese bewußt im Stile des 19. Jahrhunderts, etwas
verstaubt wirkende, gewollt "altdeutsche" Ausstattung aus Pappe? Als Anspielung
auf die Spießigkeit der Nürnberger Gesellschaft? Oder als Protest gegen
das Regietheater auf leerer Bühne oder die Ähnlichkeit zwischen der historischen
Altstadt von Nürnberg und Toulouse? Denn die größte romanische Basilika
Frankreichs steht nur 5 Minuten vom Capitole" entfernt, und mittelalterliche
Backsteinhäuser gibt es in Hülle und Fülle rings herum (Deshalb der Name
"La ville rose" für Toulouse).
Der
Nachteil einer solchen Szenographie ist die Überladung der Bühne. Zumal
im 1. Akt das Merker-Gewerk ein zweistöckiges Gestell war, wo der Merker
auf einer Leiter hinaufklettern mußte! Die nützliche Fläche der Gasse
des 2. Akts war auf ca. 30 qm beschränkt. In der Prügelszene wurde das
so gelöst, daß die kreischenden Weiber zwei Stockwerke hoch in die Fenster
verstaut wurden! Dafür waren die Kostüme (Gérard AUDIER) ca. 1860, d.
h. aus der Zeit der Komposition der Oper, worüber man diskutieren kann.
Die Damen trugen überladene, lange Kleider und verrückte Hüte. Das Kleid
Evas im 3. Akt war ausgesucht kitschig. Die Meistersinger, in großen,
halb bordeaux-roten, halb schwarzen Mänteln, sowie die "Mädchen aus Fürth"
kamen auf Festkähnen die Pegnitz entlang auf die Festwiese vor einer riesigen
Ansicht des mittelalterlichen Nürnberg. Nicolas Joel mußte in diesem engen
Rahmen eine ungewöhnlich dichte und auf den Millimeter präzise Personenführung
auf die Bühne stellen. Einige Kollegen könnten sich davon etwas abschauen!
Musikalisch
war die Aufführung gut, aber nicht überragend. Pichas STEINBERG war weniger
rigoros als an anderen Abenden. Schon im Vorspiel des 1. Akts gab es einige
Ungenauigkeiten. Auch die sonst ausgezeichneten Bläser spielten bisweilen
unsauber. Trotz Steinbergs meist recht flotter Tempi, fehlte der Prügelszene
die nötige Straffheit. Die großen Sachs-Monologe waren dafür gefühlt und
tiefgehend, und das Quintett des 3. Akts war wunderbar gesteigert. Der
CHOR DU CAPITOLE war großartig unter der Leitung von Patrick Marie AUBERT
und Norbert BALATSCH und sang ein ergreifendes "Wacht auf!" in perfekt
verständlichem Deutsch.
Die
Solisten waren alle sehr gut, manche ausgezeichnet. Alan TITUS als Hans
Sachs war stimmlich überragend, stimmgewaltig, verspielt oder träumerisch,
wenn passend, wie im Flieder-Monolog oder in seiner Ansprache vor dem
Quintett. Seine perfekte Diktion ist besonders zu unterstreichen. Anja
HARTEROS, die mediterrane Schönheit mit blonder Perücke, war eine sehr
temperamentvolle Eva. Sie sang himmlisch und ließ sich in ihren Ausbrüchen
sehr temperamentvoll hinreißen.
Ihr
Ritter Walter Stolzing war John TRELEAVEN, ein ausgezeichneter Schauspieler
mit einer großartigen Stimme und einem besonders schönem, ausdrucksvollem
Timbre. Zu Beginn war er hörbar indisponiert und hatte große Intonationsschwierigkeiten,
sang mehrmals zu tief und forcierte in der Höhe. Diese Schwierigkeiten
begannen sich langsam im 1. Akt zu lösen, und sein Preislied war großartig.
Eine Luxusbesetzung war Rainer TROST als David. Er beherrscht die Rolle
stimmlich blendend in allen Facetten und spielt den jungen Burschen in
Lederhose mit Leichtigkeit und sehr glaubhaftem Engagement. Auf der Festwiese
wirbelt er die Fürther Mädchen durch die Luft!
Eike
WILM SCHULTE hat den Beckmesser praktisch europaweit gepachtet und zu
seiner Paraderolle gemacht. Daß er den vergrämten Stadtschreiber blendend
singt, einschließlich der exponierten Stellen ist ein Genuß. Er beginnt
jedoch, in seinem Spiel etwas zu outrieren. Pogner ist auch ein eine Pachtrolle,
aber von Kurt RYDL. Er war diesmal in bester Verfassung, und kein Tremolo
minderte den guten Eindruck. Selbst in den Höhen ("Eva, mein einzig Kind")
war die Stimme überragend.
Robert
BORK als Kothner sang die Tabulatur in perfektem Deutsch und mit prachtvollem
Baß. Yvonne WIEDSTRUCK war eine sehr attraktive und schön singende Magdalena.
Die Meister waren durchwegs gut: Christer BLADIN, Michael NELLE, Kenneth
GARRISON, Martin MÜHLE, James ANDERSON, Hector GUEDES, Scott WILDE (auch
Nachtwächter) und Meik SCHWALM.
Ein
sehr schöner Abend! Das immer sehr enthusiastische Toulouser Publikum
war begeistert und feierte alle Künstler mit Überschwang und herzlichem
Applaus. wig.
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