Es
ist immer ein großes Vergnügen, das prachtvolle Grand Théâtre in Bordeaux
zu besuchen, eines der schönsten Europas. Diesmal gab es Massenets "Wiener"
Oper (Uraufführung Hofoper, 10. Februar.1892), sein bestes Werk. Die Librettisten
Blau, Millet und Hartmann haben mit Goethe zwar Schindluder getrieben
und aus der Geschichte des spleenigen Einzelgängers eine romantische Liebesgeschichte
mit zwei Hauptrollen, den Titelhelden und seiner Angebeteten Charlotte,
gemacht. Jede Aufführung steht und fällt mit diesen beiden Partien.
Die
Besetzung war erstklassig. Gilles RAGON war Werther, der dessen selbstmörderische
Besessenheit ausdrucksvoll darstellt. Jahrelang hat er seine Musikalität
im schwierigen Barockrepertoire geformt, was seine perfekte Diktion zeigt.
Vor einigen Jahren hat er ins klassische und romantische Repertoire umgesattelt.
Sein kultivierter und facettenreicher Tenor hat an Schmelz und Kraft gewonnen,
sein Spiel ist überzeugend und diskret, ohne Übertreibung, so daß er nun
Mozart und sämtliche lyrischen und spinto-Rollen des französischen Repertoires
angehen kann (er hat kürzlich Raoul in Meyerbeers "Les Hugenots" in Lüttich
gesungen). "Oh nature!" war träumerisch romantisch, aber schlicht, "Pourquoi
me reveiller?" wurde ein Triumph des Schöngesangs des Künstlers.
Seine
Partnerin war die Spanierin Lola CASARIEGO, eine große, fesche Brünette,
mit kräftigem, dunkeltimbrierten Mezzo. Sie spielt die in der kleinbürgerlichen
Atmosphäre eingezwängten Charlotte mit Temperament und schönem stimmlichen
Ausdruck, wie die sehr ergreifende Briefszene des 2. Akts. Leider hat
sie keine gute Diktion, was bei der nicht übertitelten Aufführung störte.
Ihren Gatten Albert gab David GROUSSET mit seinem ansprechenden Kavaliers-Bariton
und spielte den Beobachter der etwas überspannten amourösen Gefühlsergüsse
seiner Frau mit Diskretion.
Sophie,
Charlottes Schwester, sang Henrike JACOB fröhlich und ausgelassen mit
hübschem Sopran. Der Amtmann war bei Christian TRÉGUIER in besten Händen.
Er ist einer der Spezialisten von Comprimarirollen, der in einem altmodischen
Rollstuhl mit schöner Stimme über seinen Haushalt regierte. Ivan MATIAKH
(Schmidt) und Jean SÉGANI (Johann) sangen brav ihre Trinklieder.
Pascal
VERROT dirigierte das ORCHESTRE NATIONAL BORDEAUX AQUITAINE besonders
engagiert und arbeitete die Details der sehr differenzierten Partitur
gut heraus. Marie-Christine DARRACQ hatte den KINDERCHOR gut einstudiert.
Die
Bühnenbilder von Alexandre HAYRAUD waren passend romantisch verspielt,
düster oder biedermeierlich. Michel THEUIIL beleuchtete sehr effizient
die Szene. Die etwas dumpfe Atmosphäre wurde von den schönen Kostümen,
vor allem der Damen (mit fabelhaften Hüten), von Frédéric PINEAU belebt.
In diesem sehr passenden Rahmen konnte Jean-Louis PICHON, Direktor des
Massenet-Festivals in Saint Etienne und der dortigen Oper, seine Sänger
geschickt führen, mit einigen hübschen Ideen. So wird bereits zu Beginn
die Ausgrenzung Werthers gut gezeigt: vor dem im Wald erwachenden Werther
werden langsam zwei Fenster-Tür-Wände herabgelassen - Werther bleibt draußen.
Das
volle Haus applaudierte anhaltend und begeistert. wig.
P.S.:
Im Programmheft von "Werther" ist das Plakat der Wiener Uraufführung reproduziert.
Alle Sänger sind genannt (u.a. Marie Renard als Charlotte und Erik van
Dyck als Werther), aber nicht Regisseur und Austatter, ja nicht einmal
der Dirigent! In Paris sind auf den Einzelankündigungen der Opern nur
Dirigent, Regisseur und Bühnenbildner genannt, aber nicht die Sänger!
Andre Zeiten, andere Sitten!
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